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Ein Buch über eine ungewöhnliche Familie und warum es auch in Mannheim Leser finden sollte

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schwarz-weiß Fotografie zwei kleine Jungen, gleichzeitig Ausschnitt des Buchcovers "Nuestra América - My Family in the Vertigo of Translation" von Claudio Lomnitz

Im heutigen Blog-Beitrag stellt unsere Autorin das Buch "Nuestra América - My Family in the Vertigo of Translation" von Claudio Lomnitz vor, welches Anfang Februar 2021 erschienen ist, und sagt, warum es auch in Mannheim gelesen werden sollte.

Vor wenigen Tagen ist in überarbeiteter englischer Version ein Buch (Anm.1) erschienen, das erstmals 2018 unter dem Titel "Nuestra América. Utopía y persistencia de una familia judía" publiziert wurde und in zahlreichen Rezensionen begeistert gefeiert wurde. Der Verfasser ist Claudio Lomnitz (Anm. 2), ein Autor mit internationalem Renommee auf dem Gebiet der historischen Anthropologie. Ihm ist es mit dieser Darstellung gelungen, anhand seiner Familiengeschichte nicht nur die politische Entwicklung auf dem amerikanischen Doppelkontinent darzustellen, sondern diese auch mit der in Europa und der Israels Ende der 1940er und der frühen 1950er Jahre zu verbinden. Basierend auf Archivrecherchen und persönlichen Erinnerungen legt er dar, wie seine Familie, mit Gewalterfahrungen und Exil umgegangen ist, und beschäftigt sich mit der Frage, aus welchen Grundüberzeugungen sie immer wieder die Kraft gefunden hat, den Neuanfang zu wagen.



Buchcover der Vorversion von "Nuestra América", das soeben erschienen ist

Es ist zunächst die Geschichte seiner Großeltern mütterlicherseits, die Geschichte von Misha (Miguel) Adler und Lisa Noemi Milstein, die in zumeist erzwungener Auswanderung ein Leben in sieben Ländern auf drei Kontinenten führten - ein Leben, das nicht zuletzt gekennzeichnet war durch ihr politisches Engagement. Es brachte sie in Verbindung mit bedeutenden Persönlichkeiten und Akteuren dieser Zeit, unter ihnen der peruanische Journalist und Philosoph José Carlos Mariátegui, der ein Mitbegründer der "Partido Socialista del Perú" war. Wegen sozialistischer Neigungen in Peru inhaftiert endete ein wichtiger Abschnitt im Leben seiner Großeltern mit der Verbannung nach Kolumbien.



Die Großeltern von Claudio Lomnitz mütterlicherseits lebten eine Zeit lang im Exil in Kolumbien. Hier Ortschaft in der Nähe von Bogota, um 1929 © MARCHIVUM

Zu Beginn der 1930er Jahre beschlossen Misha und Noemi, die kurz zuvor geheiratet hatten, nach Europa zurückzukehren. In Frankreich wollte man die bereits begonnenen Studien fortsetzen. Es war eine Rückkehr in politisch unruhige Zeiten mit ihren alltäglichen Restriktionen und Ausgrenzungen. 1932 wurde in Paris ihre Tochter Larissa geboren und als staatenlos registriert. Als Tochter jüdisch-rumänischer Studenten in Frankreich wurde ihr sowohl die rumänische als auch die französische Staatsangehörigkeit verwehrt. Fakten wie diese bieten dem Autor die Gelegenheit zu grundsätzlichen Überlegungen und Schlussfolgerungen. Larissa Adler Milstein wurde, das sei hier nur am Rande bemerkt, durch ihre Forschungen und Studien über das Leben marginalisierter Bevölkerungsschichten in Lateinamerika bekannt und als Mitglied in mehrere Gesellschaften und Akademien aufgenommen; 2010 wurde sie zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Bevor die Familie Europa wieder in Richtung Südamerika verließ, kehrte sie noch einmal nach Rumänien zurück. Ihre Bemühungen - in Anbetracht der sich auch in Rumänien abzeichnenden verschlechterten Lage für Juden -, möglichst viele zur Emigration zu bewegen, waren auch im eigenen Familienkreis nur teilweise erfolgreich. Hershel und Lea Adler, die Eltern von Misha blieben zurück; sie wurden verschleppt und starben im Konzentrationslager.

Etwa zur gleichen Zeit emigrierten die Großeltern von Claudio Lomnitz väterlicherseits aus Deutschland. Ihr Exil führte sie über Brüssel nach Chile. Die weitere Emigration nach Übersee rettete ihr Leben; für andere Mitglieder der weitverzweigten Familie wurde Belgien zur Falle, nachdem die deutsche Wehrmacht das Land 1940 überfallen hatte. Der Entschluss des Großvaters, des Rechtsanwalts Kurt (Richard) Lomnitz, relativ kurz nach der sogenannten Machtergreifung mit seiner Ehefrau Bronislawa und seinen beiden Söhnen, Cinna und Eric, Deutschland zu verlassen, dürfte auch dem traumatischen Erlebnis geschuldet gewesen sein, welches seine Frau über ein Jahrzehnt zuvor zu durchleiden hatte: der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit antisemitisch motivierte Mord an ihrem Vater, dem Kaufmann Sina Aronsfrau in Mannheim.



Hochzeitsfoto von Bronislawa Aronsfrau und Dr. Kurt Lomnitz, den Eltern von Cinna Lomnitz © Privatbesitz

Seiner Großmutter Bronislawa, einer hochbegabten Sängerin, der die Karriere in Deutschland versagt wurde, und seinem Vater, dem 1925 in Köln geborenen Geophysiker und weltbekannten Erdbebenforscher Cinna Lomnitz Aronsfrau (Anm. 5), widmet der Autor mehrere Kapitel gegen Ende des Buches; sie beinhalten auch eine bemerkenswerte Analyse über Verdrängen und dessen Scheitern.



Bronislawa Lomnitz geb. Aronsfrau, die Großmutter väterlicherseits von Claudio Lomnitz, verbrachte ihre Jugend mit ihrer Familie im Mannheim der Kaiserzeit. Hier ein Blick aus der Breiten Straße auf die Kurpfalzbrücke © MARCHIVUM

Das Buch ist fesselnd geschrieben, und die englische Fassung dürfte auch für den ungeübteren Leser fremdsprachiger Literatur keine Hürde darstellen. Eine Übersetzung wäre dennoch wünschenswert. Ein Verlag sollte doch zu finden sein, eventuell ein regionaler in Anbetracht der Tatsache, dass sich im Mai 2022 der Todestag des Urgroßvaters zum hundertsten Mal jährt. Sina Aronsfrau ist, wie auch die Mutter von Bronislawa, Leonora Taube, und ihre jüngste Schwester Regina, auf dem jüdischen Friedhof in Mannheim begraben.

Anmerkungen:
(1) Claudio Lomnitz: Nuestra América - My Family in the Vertigo of Translation, New York (Other Press) 2021 [ISBN: 978-1-63542-070-8]. Angekündigt ist auch eine E-Book-Version.

(2) Er ist unter anderem Gründungsdirektor des „Center for Mexican Studies der Columbia University“ und wurde 2017 mit dem Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung ausgezeichnet. Weitere Informationen auch unter: https://claudio-lomnitz.com/about/ und https://anthropology.columbia.edu/content/claudio-w-lomnitz sowie https://en.wikipedia.org/wiki/Claudio_Lomnitz

(3) Die Wurzeln der Familie lagen, soweit es den Großvater betraf, in Nova Sulitza (Nowoselyzja, Nowosielitza oder auch Noua Suliță), einer Stadt, die um Jahrhundertwende östlich des Pruth zum Russischen Reich und westlich des Pruth zum österreichischen Kronland Bukowina gehörte, deren Teilung aber nach dem Ersten Weltkrieg durch den Anschluss der Bukowina und Bessarabiens an Rumänien aufgehoben wurde. Seine Großmutter war über Mogilev (Mohyliw-Podilskyj), ihrem Geburtsort, und Czernowitz, wohin ihre Familie nach dem Ausbruch der Revolution in Russland und den folgenden Unruhen geflohen war, 1927 nach Peru gekommen.

(4) https://en.wikipedia.org/wiki/Larissa_Adler_Lomnitz sowie https://www.lai.fu-berlin.de/aktuelles/infos/nachruf_lomnitz.html

(5) http://www.iaspei.org/about/bios-obituaries/cinna-lomnitz-1925-2016 und https://de.wikipedia.org/wiki/Cinna_Lomnitz sowie https://link.springer.com/article/10.1007/s10950-016-9620-6

Hinweis:
Über den Mord an Sina Aronsfrau haben wir bereits in einem früheren Blog-Beitrag in der Kategorie "Forschung" berichtet.

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