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„…ehrliche Leut von allen Nationen“, Migration im Zuge der zweiten Stadtgründung

Kupferstich, der eine Stadtansicht von Mannheim aus dem 17. Jahrhundert zeigt. Vorne ist der Rhein zu sehen und eine Fähre, die als "fliegende Brücke" diente.

1649 kehrte Kurfürst Karl Ludwig (1617-1680) in die Kurpfalz zurück, die ihm im Westfälischen Frieden wieder zugesprochen worden war. Selbst in Heidelberg residierend, entschloss er sich, das seit 1622 weitgehend unbewohnte Mannheim sowie die Festung Friedrichsburg wiederaufzubauen. Um Zuwanderer für Mannheim („…ehrliche Leut von allen Nationen“) zu gewinnen, erließ er 1652 Privilegien in Deutsch, Niederländisch und Französisch. Die 19 Artikel umfassenden Stadtprivilegien zählen zu den modernsten Stadtverfassungen im Deutschland des 17. Jahrhunderts und startete so das "Mannheimer Experiment".

Der Mannheimer Stadtdirektor Henri Clignet (1607-1683) war maßgeblich an der Formulierung der Stadtprivilegien beteiligt. Die Privilegien setzen eine Reihe wirtschaftlicher Anreize, um neue Einwohner*innen zu gewinnen. Im Gegensatz zur restlichen Kurpfalz gab es keine Leibeigenschaft. Auch ein Zunftzwang existierte nicht. Neuankömmlingen wurde eine zwanzigjährige Steuerbefreiung zugesagt, danach nur eine mäßige Besteuerung. Jede*r Bauwillige erhielt einen kostenlosen Bauplatz, für das Grundstück wurde lediglich ein jährlicher Grundzins fällig.

Eine Besonderheit stellt die Offenheit gegenüber allen Religionen dar, keine Religion oder Konfession wurde ausgeschlossen. Allerdings wurde die reformierte Konfession ausdrücklich privilegiert. Juden wurden in den Stadtprivilegien nicht erwähnt, doch auch sie konnten in Mannheim ansiedeln. 1660 wurden zwei Judenkonzessionen erlassen, ein Jahr später wurde die jüdische Gemeinde gegründet. Der Nachfolger Karl Ludwigs, Kurfürst Karl II. (1651-1685), schränkte die Befreiung vom Ein- und Ausfuhrzoll ein, und sein Nachfolger Kurfürst Philipp Wilhelm (1615-1690) bestätigte die Privilegien, beendete aber die Benachteiligung der katholischen Religion gegenüber der reformierten Konfession.

Nach einem kurzen Blick auf die umliegenden Dörfer, die auch auf Zuwanderung setzten, nimmt Frau Dr. Schlösser die Zuzug- und Einwohnerentwicklung Mannheims in den Blick. Die Quellenlage bewertet sie als gut, neben einem Plan von Jacob van Deyl, konnte sie auf die Ratsprotokolle, das Protokollbuch der französisch-reformierten Gemeinde, Grundzinsbücher, Kirchenbücher und Verlassenschaftsakten zurückgreifen.


Karl Ludwig von der Pfalz (1617-1680). Kupferstich, MARCHIVUM

Die bisherige Forschung geht davon aus, dass 1663 ca. 2.500 – 3.000 Menschen in Mannheim lebten, 1688 ca. 6.000 – 7.000, und dass in der Festung zwischen 500 – 1.000 Militärangehörige stationiert waren. Namentlich eruieren konnte Frau Dr. Schlösser 5.857 verschiedene Personen (4.297 Männer, 1.331 Frauen und 229 Kinder, davon 103 Jungen und 126 Mädchen), die zwischen 1650 und 1689 in Mannheim lebten. Von diesen 5.857 Personen waren 2.593 Deutsche, 2.458 kamen aus französischsprachigen Gebieten (aus Frankreich oder dem heutigen Belgien), 34 aus Flandern, 363 aus Holland, 75 aus der Schweiz, 7 aus Italien und 121 ließen sich keiner dieser Gruppen zuordnen. Eine Aussage über die genaue religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung lässt die Quellenlage leider nicht zu. Auf den Plänen lässt sich gut erkennen, dass 1663 viele Grundstücksbesitzer*innen aus dem französischsprachigen Raum und den Niederlanden stammten, zwanzig Jahre später stammten die meisten aus deutschsprachigem Gebiet.


Herkunft der Mannheimer Grundstückeigentümer*innen 1663. Ermittelt und auf der Grundlage des Plans von Jacob van Deyl kartiert durch Susanne Schlösser.

Insbesondere die ökonomischen Anreize lockten die Zuwanderer an. Darüber hinaus war die hugenottisch-reformierte Migration auch religiös begründet. Reine Armutsmigration wie im Falle einer mittellosen Witwe mit fünf Kindern, wurde dagegen von der Stadt unterbunden, um nicht weitere Arme anzulocken. Den Zugezogenen gelang nicht immer eine dauerhafte Ansiedlung in Mannheim. Die Fluktuation war groß.

Herkunft der Mannheimer Grundstückeigentümer*innen 1683/84. Ermittelt und auf der Grundlage des Plans von Jacob van Deyl kartiert durch Susanne Schlösser.

Es existierten keine Quartiere, in denen Menschen bestimmter Religion oder Abstammung wohnten, worin ein maßgebliches Merkmal des "Mannheimer Experiments" liegt. Ebenso gab es keine berufsbezogenen Quartiere. Frau Dr. Schlösser stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach den Erwerbsmöglichkeiten. Einige Einwohner versuchten sich auf mehreren Standbeinen, oft übten die Menschen aber ein Handwerk für den alltäglichen Bedarf aus. Auch der Tabakanbau bot ein gutes Beschäftigungsfeld. Da viel gebaut wurde, gab es auch etliche Steinbäcker, Maurer und Zimmerleute.

Der Pfälzische Erbfolgekrieg setzte mit der zweiten Zerstörung Mannheims dem Ganzen ein Ende. Im Spätjahr des Jahres 1688 begann der Krieg, der sich bis 1697 hinziehen sollte. Die Mannheimer Einwohner*innen wurden am 6. März 1689 ausgewiesen, die Stadt bis zum 25. März niedergebrannt, die Festungsmauern gesprengt, die Brunnen zugeschüttet, das Gelände planiert. Die meisten französisch-reformierten Einwohner*innen gingen nach Brandenburg (1657 – 1713), die wohlhabende Bevölkerung bekam Asyl in Darmstadt, Frankfurt, Gießen oder Hanau. Nur die Ärmeren blieben und hausten jenseits des Neckars in einem „Neu-Mannheim“ – zwei Straßenzügen mit einfachen Behelfsbauten.

Das zweite Kapitel unseres Sammelbandes zur Migrationsgeschichte Mannheims stammt aus der Feder von Dr. Susanne Schlösser, ehemalige langjährige Abteilungsleiterin des Historischen Archivs des MARCHIVUM. Den kompletten Aufsatz finden Sie in der Publikation Philipp Gassert, Ulrich Nieß, Harald Stockert (Hg.): Zusammenleben in Vielfalst. Zuwanderung nach Mannheim von 1607 bis heute. Veröffentlichungen zur Mannheimer Migrationsgeschichte. Bd.1. verlag regionalkultur. Mannheim 2021. ISBN 978-3-95505-311-6