Die antisemitischen Pogrome im zaristischen Russland hatten eine Massenauswanderung ausgelöst, deren Ziel in erster Linie die USA waren. Ein Teil der Flüchtlinge ließ sich in westeuropäischen Ländern nieder. Das sogenannte Scheunenviertel in Berlin war einer der bekanntesten Orte ostjüdischer Einwanderung.In Mannheim ließen sich die meisten von ihnen in der westlichen Unterstadt nieder. Ähnlich wie das Berliner Scheunenviertel entwickelte sich hier "die Filsbach" zum Zentrum der meist orthodox lebenden Ostjuden. Hier befanden sich die beiden Synagogen der Stadt. Viele der Neueinwanderer integrierten sich in die bestehende Gemeinde und besuchten die Hauptsynagoge in F 2, 13, besonders aber auch die orthodoxe Lemle-Moses-Klaus-Synagoge in F 1, 11. Für ihre religiösen Bedürfnisse gründeten einige der jüdischen Einwanderer eigene Vereine mit dem Ziel, "Betstübel" in der Stadt zu unterhalten und dort Gottesdienste im gewohnten traditionellen Ritus anzubieten. Sie hinterließen nur wenige Spuren. Bis zur Auflösung der ostjüdischen Vereine in der Nazizeit konnten sechs Betstübel in den Quadraten und im Jungbusch nachgewiesen werden.
Raum des Betstübels in G 7, 30 - heutiger Zustand
Diese Menschen sprachen oft jiddisch und entsprachen oft schon äußerlich dem Feindbild der Nationalsozialisten. Die Ostjuden traf ihr erbitterter Hass. Die Menschen aus den Gebieten von Polen und den Nachbarländern litten unter den frühesten antijüdischen Gesetzen und unter gnadenloser Ausgrenzung. Sie wurden Opfer der ersten Deportation von Juden im Jahr 1938 bis zu ihrer Ermordung in den Konzentrationslagern.
In der kleinen Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg überwogen die "Displaced Persons" aus Osteuropa. Es waren Zwangsverschleppte und Überlebende aus den Konzentrationslagern, die nach Jahren des Leidens in der Gegend gestrandet waren. Die Gründungsmitglieder der Mannheimer Gemeinde kamen aus dem von der amerikanischen Besatzungsmacht eingerichteten DP-Lager in Lampertheim.
Rywka Szajn kam über ein DP-Lager nach Deutschland und 1985 nach Mannheim, wo sie 2019 verstarb
Jahrzehnte später ermöglichte das Ende der Sowjetunion neue Einwanderungsmöglichkeiten. Russischsprachige Immigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken kamen ab 1990 nach Deutschland. Sie führten auch in der jüdischen Gemeinde Mannheim zu einem Erstarken der Mitgliederzahl. Sie brachten neue, wertvolle Impulse und viel Engagement mit, stellten die Gemeinde aber auch vor neue Herausforderungen.
Im allgemeinen Teil des Buches umreißt eine "Kurze Geschichte der Ostjuden" die Chronik ihrer Vertreibung aus Westeuropa seit dem Mittelalter, die Situation in den Aufnahmeländern von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und die Massenauswanderung aus dem Zarenreich bzw. der Sowjetunion ab 1881. Der spezielle Teil beschreibt den Zuzug von Ostjuden nach Mannheim, ihre Vereine, die Betstübel, ihr Einfluss auf das Gemeindeleben und die Gesamtstadt, ihre Ausgrenzung und Verfolgung in der NS-Zeit, die Wiedergründung der Gemeinde durch "heimatlose Ausländer" und die Einwanderung nach dem Sturz der Sowjetunion.
Ostjüdisches Milchgeschäft Flattau am Clignetplatz, um 1930
Das Buch dokumentiert anhand von 31 exemplarisch ausgewählten Biografien in einem Zeitraum von 1891 bis heute ostjüdische Schicksale, Migrationsbewegungen und Integrationswege in Mannheim. Die benutzten Quellen stammen aus verschiedenen öffentlichen Archiven, in erster Linie aus dem MARCHIVUM, und aus Familienarchiven. Mehrere Biografien wurden in den 1990er Jahren durch die Spielberg-Foundation in Interviews aufgezeichnet bzw. vom Autor mit den Zeitzeugen in Interviews geführt.
Die Publikation "Die Ostjuden in Mannheim" kann im MARCHIVUM-Shop käuflich erworben werden. Dort steht auch eine Leseprobe bereit.
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