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Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region

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Die Progress Pride Flag in Nahaufnahme vor dem Mannheimer Wasserturm.

Die Geschichte und Gegenwart queeren Lebens in unserer Region und ihrer Zentren Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg ist das Thema des im Oktober 2022 vom MARCHIVUM herausgegebenen Buches mit dem Titel "Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region." Das Buch mit beigefügter Filmdokumentation berichtet von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung, aber auch vom Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung, von queeren Emanzipationen und Communities. Mit einem Einblick in das von Dana-Livia Cohen, Wolfgang Knapp und Christian Könne verfasste Buch starten wir eine Serie zum queeren Leben in Mannheim und der Region.

Das Buch nimmt die vielen Jahrhunderte der Stigmatisierung und Verfolgung von Menschen, die heute als schwul, lesbisch, bi, trans*, inter* oder queer bezeichnet werden in den Blick. Als frühes Beispiel führt es das Decretum des Bischofs Burchhard von Worms aus dem frühen 11. Jahrhundert an, das für sogenannte Unzucht und Sodomie Strafen im Bereich des Kirchenrechts – vom Entzug der Sakramente über öffentliche Bloßstellung bis zu Auspeitschung und Gefängnis – vorschrieb. Doch auch weit später wurden Gesetze dieser Art erlassen. Im Zuge der Gründung des Deutschen Kaiserreichs wurde 1872 der § 175 reichsweit eingeführt, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte und mit Gefängnisstrafen ahndete. Durch die akribische Auswertung von Presseberichten hat Christian Könne für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs in unserer Region rund 100 Fälle gefunden, bei denen Männer wegen des § 175 vor Gericht angeklagt wurden. Nicht wenige wurden verurteilt und mussten eine Gefängnisstrafe verbüßen.
In der NS-Zeit erreichte die Verfolgung ihren Höhepunkt. Der § 175 wurde 1935 verschärft, so dass schon eine Umarmung zwischen Männern oder ein „falscher“ Blick als Beweis für Homosexualität gelten und zur Verurteilung führen konnte. Ab 1936 diente die „Reichszentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung“ als Zentrales Instrument der Verfolgung. Mit einem Rosa Winkel gebrandmarkt, wurden viele Menschen wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt, die sie oftmals nicht überlebten. In Mannheim, Ludwigshafen und Worms erinnern heute sechs Stolpersteine an aus der Region stammende queere Opfer der NS-Zeit.


Gasthaus Neue Schlange in Mannheim, P 3, 12. Einer der um 1910 nachgewiesenen Treffpunkte homosexueller Männer. Foto um 1906, MARCHIVUM.

In weiteren Kapiteln verfolgt das Buch die queeren Emanzipationsbewegungen und Kämpfe um Anerkennung und Gleichberechtigung. So wird die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene und viel beachtete Kampagne zur Abschaffung des § 175 des Berliner Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld genauso betrachtet wie die Existenz einer „queeren Szene“ zum Ende des Kaiserreiches. Um 1900 existierten in Mannheim einzelne Kneipen und Gaststätten, die zu bestimmten Zeiten als Treffpunkte vor allem schwuler Männer dienten. Dort lagen teilweise auch Aufklärungszeitschriften mit queeren Themen aus. Der Polizei waren diese Gaststätten bekannt. Die Wirte und ihre Gäste wurden bespitzelt und ausgefragt, immer mit dem Ziel gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen nachzuweisen. So sind es ausgerechnet die Akten der Strafverfolgungsbehörden, die über die Orte und Personen queerer Emanzipation im Kaiserreich und dann auch in der Weimarer Republik Auskunft geben.
Diese frühe Emanzipationsbewegung wurde in der NS-Zeit zerschlagen. Aber auch in der jungen Bundesrepublik unterdrückten Justiz und Polizei den Kampf queerer Menschen für ihre Rechte und ein selbstbestimmtes Leben. Erst 1969 kam es zur Reform des § 175 und wurde – gegen vielfachen Widerstand – Homosexualität zwischen erwachsenen Männern straffrei. Es war eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche, an denen neben der Frauenbewegung auch Aktivist*innen aus der queeren Community einen wichtigen Anteil hatten.


CSD 2018 in Mannheim. Stadt Mannheim / Foto: Alexander Kästel.

Entsprechend spannend lesen sich die Kapitel über die schwulen und lesbischen Emanzipationsbewegungen seit Anfang der 1970er Jahre in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen, aber auch in 14 weiteren Städten der Region. Neben den Freizeitangeboten, Kneipen, Bars, Diskotheken und anderen queeren Orten werden vor allem die Initiativgruppen und ihr Engagement gegen Diskriminierungen und Vorurteile vorgestellt, wobei auch die innerhalb der Community bestehenden Kontroversen über Ziele und Wege der politisch-gesellschaftlichen Arbeit zur Sprache kommen. Die zunehmende Diversifizierung wird thematisiert, und erstmals werden die Öffentlichkeiten, Vernetzungen und Emanzipationen von Bisexuellen sowie von Trans* und Inter* in der Rhein-Neckar-Region beschrieben. Dazu kommen Beiträge über die Auswirkungen von HIV und Aids, die Geschichte des Christopher Street Days in der Region und den langen Weg zu gleichgeschlechtlichen Eheschließungen. Mit den Kapiteln über die heutigen Freizeitangebote und Beratungseinrichtungen kommt das Buch endgültig in der Gegenwart an.
Auf dem Weg dorthin werden nicht nur die großen historischen Linien betrachtet, sondern auch Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien vorgestellt, wie zum Beispiel August Wilhelm Iffland, Schauspieler, Intendant und Dramaturg am Mannheimer Nationaltheater, oder Melchior Grohe, ein in Mannheim geborener Schriftsteller, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Verteidigungsschrift der Homosexualität verfasste. Es wird über die Affäre um den Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Johann Baptist von Schweitzer berichtet, dem 1862 „Unzucht“ im Mannheimer Schlosspark vorgeworfen wurde, was einen Skandal hervorrief und von seinen politischen Gegnern genutzt wurde, um ihn zu diskreditieren. Ein Bürgermeister in Neckargemünd und ein Schuldirektor in Landau, die wegen ihrer Homosexualität ihre Ämter verloren, werden ebenso in Erinnerung gebracht wie die aus Ludwigshafen stammende trans Frau Liddy Bacroff, die 1943 im KZ Mauthausen ermordet wurde, und Hertha Wind, die in den 1950ern ihre Lebensgeschichte als trans Frau bekannt machte. Weitere Schlaglichter gelten dem bekannten Mannheimer Künstler Rudi Baerwind, der wegen seiner Homosexualität zweimal im Gefängnis saß, dem Schauspieler Dietmar Kracht, der durch Filme von Rosa von Praunheim bekannt wurde, sowie Napoleon Seyfarth, der in einer viel beachteten Autobiografie sein intensives Leben als Homosexueller und seine Aids-Erkrankung öffentlich machte.


Rudi Baerwind in seinem Atelier, um 1970. Baerwind-Stiftung | Liddy Bacroff, 1933. Staatsarchiv Hamburg StAHH 242-4 Kriminalbiologische Sammelstelle, 339.

140 Abbildungen bereichern das 344 Seiten starke Buch, das zudem durch eine von Dana-Livia Cohen und Wolfgang Knapp gemeinsam mit Ali Badakhshan Rad erstellte Filmdokumentation abgerundet wird. Darin werden Ausschnitte aus Fernsehsendungen und Reportagen sowie aktuelle Zeitzeug*innenberichte und Statements eindrucksvoll zusammengeführt. Das Buch mit beigefügter Film-DVD ist im Verlag Regionalkultur erschienen. Es ist im Shop des MARCHIVUM, im Buchhandel und im Verlag zum Preis von 29,80 Euro erhältlich.

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Transidente Menschen in der queeren Geschichte der Rhein-Neckar-Region

Transidente Personen identifizieren sich nicht mit ihrem angeborenen, biologischen Geschlecht, sondern fühlen sich dem Gegengeschlecht zugehörig. Anknüpfend an das vom MARCHIVUM herausgegebene Buch "Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region", blicken wir heute in die Geschichte transidenter Menschen in der Region und stellen die Biografien von zwei trans Frauen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen vor.

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