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Der Waldhof in Person - Walter Spagerer

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Walter Spagerer auf einem Spaziergang

Der Nachlass Walter Spagerers besteht aus einem Karton, der drei volle Mappen enthält. Er setzt sich vorwiegend aus Redemanuskripten zusammen, anhand derer man noch für lange Zeit seine politischen Positionen und die Probleme seiner Zeit wird ablesen können. Aber auch Sitzungsprotokolle, Wahlwerbung oder Zeitungsartikel geben Aufschluss über sein Leben.

Es lässt sich gewissermaßen sagen, dass Walter Spagerer die Personifizierung seines  Stadtteils ist, das Arbeitersein und den Fußball in sich vereint. Den politisch Interessierten der  älteren Generation ist er wohl vor allem als Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ein Begriff. Arbeiterinnen und Arbeiter der Metallindustrie kennen ihn womöglich als prominentes Mitglied der IG-Metall. Einer jüngeren Generation wurde er erst später geläufig, da er sich im Rentenalter ebenfalls als Funktionär vermehrt seiner großen Leidenschaft, dem Fußball beim SV Waldhof, widmete.

Geboren und aufgewachsen ist Spagerer im Mannheimer Norden, im Stadtteil Waldhof. Er kommt am 2. November 1918 in eine Epoche und an einem Ort auf die Welt, die schwieriger nicht sein könnten. Der erste Weltkrieg ist zu diesem Zeitpunkt gerade vorüber, die Menschen – allen voran die Arbeiterinnen und Arbeiter, von denen der Waldhof in der Mehrheit bewohnt wird – sind von der Monarchie desillusioniert. Der jahrelange Krieg hat seine Spuren hinterlassen. Eine Mischung aus Ungewissheit und Wut, vor allem aber knurrende Mägen, vor Kälte zitternde Körper und durch den Krieg zerrissene Familien prägen die Realität der einfachen Menschen im Winter 1918/19. Sieben Tage nach der Geburt Walter Spagerers, am 9. November 1918, wird als Folge wütender Aufstände und erbitterter Kämpfe in Berlin die Republik ausgerufen.

Die kommenden Jahre werden nicht leichter für die Bevölkerung der Arbeiterstadtteile. So kann sich Walter Spagerer noch gut an die damalige Inflation erinnern, wenn er beschreibt, wie er als Kind "mit verfallenen Billionen" spielte, "die am Morgen vielleicht noch den Wert von einem Laib Brot hatten, am Abend des selben Tages nur noch den Wert für ein halbes Brot." Er erinnert sich an das "Blumsklo" im Zwischenstock der Häuser, das drei bis vier Familien gemeinsam benutzten und das "Pulloch" im Hof, welches von Bauern aus Käfertal "ab und zu" geholt und als Dünger für die Felder zwischen den Stadtteilen Waldhof und Käfertal, dort wo heute der Speckweg verläuft, gebraucht wurde. Weiter schreibt er von der "großen, schrecklichen Arbeitslosigkeit", die die Menschen "formte und zeichnete".

Die Kinder und Jugendlichen, Spagerer nennt sie "Gassebuwe", vertreiben sich die Zeit mit Fußball, genauer gesagt "Kellerlöchels", einer Waldhöfer Eigenart des Straßenfußballs, bei der die Kellerlöcher der Häuser die Tore darstellen und die, so sagt es die Legende, auch Verantwortung trägt für die ausgezeichnete Technik der Kicker des SV Waldhof. Diese sind es auch, die in diesen schweren Zeiten Freude im Arbeiterviertel spenden und zum Zusammenhalt beitragen.

Im Speziellen erwähnt Spagerer das vermutlich größte Talent der Waldhof-Schmiede Otto Siffling, dessen Glanzzeit mit den ersten Jahren der Nazidiktatur zusammenfällt. Gemeinhin ist bekannt, dass die Herrschaft der Nationalsozialisten zunächst einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine Eindämmung der Arbeitslosigkeit erreichen konnte. Doch ist dies vor allem Nebeneffekt der Vorbereitungen auf den nächsten Krieg, der die Menschen dem nächsten Schrecken zuführt.

Spieler des SV Walhof, in der Mitte Otto Siffling

Walter Spagerer nimmt an diesem Krieg Teil. Im Manuskript zu einer Rede am 1. Mai 1985 ist zu lesen:
"Werte Kolleginnen und Kollegen, nach diesen Bildern des Grauens, der Zerstörung und der Verzweiflung gibt es keine Worte, die auch nur im Entfernten Aussagekraft haben."
Sein politisches Engagement beginnt er direkt nach dem Krieg. Als Feinmechaniker bei Bopp & Reuther nimmt er zunächst eine Tätigkeit als Betriebsrat auf und ist ab 1951 hauptamtlich bei der IG Metall aktiv. In die SPD tritt er nur ein Jahr später ein. Er bringt es später zum Ersten Bevollmächtigten der IG Metall und für die SPD in den baden-württembergischen Landtag.

Er versteht sich selbst als "Linken mit Maß", wobei seine Rhetorik für heutige Verhältnisse geradezu als radikal gelten muss. So prangert er im Manuskript seiner Mai-Rede 1985 unumwunden den Abbau sozialer Errungenschaften an und spricht vom Klassenkampf von oben nach unten. Er zeigt den Interessensgegensatz von Unternehmer und Arbeitnehmer klar und deutlich auf und positioniert sich hier ebenso klar. "Investitionen für den Umweltschutz" stellt er als "Gebot zum 1. Mai 1985 und damit zur Arbeitsbeschaffung" heraus.

Eine Reihe von Notizzetteln geben Aufschluss über die Bewertung seiner politischen Laufbahn. Als positiv nennt er die Reform der Arbeitswoche von sechs auf fünf Arbeitstage, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und den Bau des Mannheimer Gewerkschaftshauses, an dem er maßgeblichen Anteil hat. Negativ sieht er die öffentliche Meinung gerade in den 1950er Jahren aber auch später noch, die den gewerkschaftlichen Kampf mit Illegalem assoziiere. Beispielhaft führt er einen größeren Streik aus dem Jahre 1963 an, der seiner Meinung nach von der Presse als "nationales Unglück" abgestempelt worden sei.

Gewerkschaftstag in Berlin, 1966

Belohnt wird er für seine Verdienste um Stadtteil, Stadt und Bundesland im Jahr 1987 mit dem Bloomaul-Orden, der wichtigsten Mannheimer Auszeichnung.
In seinem Ruhestand ist er vor allem beim SV Waldhof aktiv, unter anderem als Präsidiumsmitglied für den Ehren- und Ältestenrat. Im Jahr 2014 wird Spagerer im Alter von fast 96 Jahren noch Zeuge davon, wie auf Initiative des Fandachverbandes Pro Waldhof e.V. die Haupttribüne des Carl-Benz-Stadions seinen Namen bekommt. Seitdem trägt sie den Namen "Walter-Spagerer-Tribüne".
Das Urgestein aus dem "traditionsreichen Arbeitervorort" Mannheim-Waldhof verstirbt schließlich am 20. Februar 2016 mit 97 Jahren.

Wahlplakat zur Landtagswahl 1984

 

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