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Vom "bitteren Gedenktag der Kapitulation" zum "Tag der Befreiung" - Das Gedenken an den 8. Mai 1945 in Mannheim

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Helmut Gollwitzer am Rednerpult, 1955

Am heutigen Tag jährt sich zum 75. Mal die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands und damit die Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition. Im Folgenden soll schlaglichtartig beleuchtet werden, wann und wie in Mannheim in den Jahrzehnten nach Kriegsende öffentlich an den 8. Mai erinnert und der Opfer gedacht wurde.

Die erste Gedenkfeier fand zum 10. Jahrestag statt. Am 7. Mai 1955 lud die Stadt Mannheim zu einer "Stunde der Stille" auf den Schillerplatz, wo 1952 der von Gerhard Marcks geschaffene "Friedensengel" als zentrales städtisches Mahnmal zur Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges errichtet worden war.

Über die andächtige Veranstaltung anlässlich des "bitteren Gedenktags der Kapitulation", wie der Mannheimer Morgen seinerzeit formulierte, gibt die Berichterstattung des Lokalblatts Auskunft: "Die Häuser waren illuminiert; das Mahnmal, in Scheinwerferlicht getaucht, warf Schatten auf die Haussteinmauer, mächtig wuchs aus dem Dunkel die gewaltige Flanke der Jesuitenkirche. Eine große Menschenmenge – und doch zu wenig für die große Stadt – nahm in ehrfürchtigem Schweigen Musik und Ansprachen entgegen."

Ein Blasorchester und ein Zusammenschluss von nicht weniger als sechs Mannheimer Männerchören umrahmten die Veranstaltung musikalisch. Mehrere tausend Menschen nahmen an der Gedenkstunde teil. Neben Oberbürgermeister Hermann Heimerich konnte als Hauptredner der sozialistische Theologe Helmut Gollwitzer gewonnen werden, der als Mitglied der Bekennenden Kirche in Gegnerschaft zum NS-System gestanden hatte und im "Dritten Reich" mehrmals verhaftet worden war. In seiner Ansprache prangerte der Theologe die "Schuld am Verrat der sittlichen Werte" an, welche zu den Schrecken des Nationalsozialismus geführt habe, und warnte: "Die Flucht in das Vergessen darf nicht stattfinden."

Es entsprach dem Zeitgeist ebenso wie dem Zweck des von Oberbürgermeister Heimerich auf den Weg gebrachten "Friedensengels", dass das Gedenken an das Kriegsende unterschiedslos die Verfolgten und Opfer des Nationalsozialismus, deutsche Kriegstote, sogenannte Heimatvertriebene und das durch alliierte Luftangriffe verursachte Leid der Zivilbevölkerung einschloss.

Den Zweiten Weltkrieg nannte Gollwitzer in einem Atemzug mit Versailles, Jalta und Hiroshima; in den nebulösen Ausführungen über die "von Nihilismus zernagte Menschheit" kamen die Opfer des NS-Terrors eher am Rande vor. Die Frage nach Schuld und Verantwortung löste der Redner aus dem historischen Kontext des Nationalsozialismus und forderte eine "Kollektivscham" angesichts der "Bestialität des 20. Jahrhunderts". Schließlich würdigte Gollwitzer den raschen Wiederaufbau sowie die demokratische Entwicklung Deutschlands seit 1945 und rief zu Demut und Dankbarkeit über das gesellschaftliche Zusammenwirken der Nachkriegszeit, materielle Auslandshilfen und "Gottes Güte" auf.

Die "Stunde der Besinnung" im Jahr 1955 war die bis heute einzige städtische Großveranstaltung zum Jahrestag des Kriegsendes.

Helmut Gollwitzer bei seiner Rede im Rahmen der Gedenkfeier am 7. Mai 1955 in Mannheim

Generell fanden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in Mannheim nur selten größere Veranstaltungen zum 8. Mai statt. Im Vordergrund standen stets andere Jahres- und Gedenktage wie der 29. März (Kriegsende in Mannheim), der 1. September (Antikriegstag), der Volkstrauertag, der 9. November (Pogromnacht), später auch der 22. Oktober (Gurs-Deportationen) und seit den späten 1990er Jahren der 27. Januar (Internationaler Holocaust-Gedenktag).

Am und um den 8. Mai fanden – wenn überhaupt – meist schlichte Kranzniederlegungen am Friedensengel oder auf dem Hauptfriedhof mit bescheidener Teilnehmerzahl statt, die von einzelnen Parteien, Gewerkschaften oder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) organisiert wurden. So etwa 1965, als sowohl die Gewerkschaften Kränze zum Gedenken an die NS-Opfer vor dem Mahnmal auf dem Schillerplatz niederlegten als auch die VVN in Kooperation mit der "Vereinigung für Frieden und soziale Sicherheit" (VFS).

Die Gedenkkundgebung von VVN und VFS mit anschließendem Schweigemarsch zum Wasserturm legte den Schwerpunkt auf die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand und verknüpfte das Gedenken mit dem Protest gegen den Vietnamkrieg sowie gegen die Bundeswehr. An dem Schweigemarsch beteiligten sich nach Presseangaben ca. 100 Personen; die Gewerkschaften sowie das Gros der Mannheimer Parteien blieben der als politische Instrumentalisierung des Opfergedenkens bezeichneten Veranstaltung weitgehend fern. In der Tagespresse fand die Veranstaltung daher auch nur kurze Erwähnung. In der Berichterstattung des Mannheimer Morgen zur Erinnerung an die "Beendigung des Zweiten Weltkrieges" stand dem kurzen Beitrag mit dem Titel "Schluss mit dem Krieg in Vietnam" ein ganzseitiger Artikel gegenüber, der sich der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, den zivilen Kriegsopfern sowie dem Wiederaufbau widmete. Die Opfer des Nationalsozialismus fanden in dem Beitrag keine Beachtung.

Auch in den folgenden Jahren gab es keine überparteilichen Veranstaltungen zum 8. Mai. In Zeiten des "Kalten Kriegs" war an gemeinsame Gedenkfeiern der unterschiedlichen politischen Lager nicht zu denken, so dass es bei vereinzelten Kranzniederlegungen blieb. Noch im Jahr 1975 – 30 Jahre nach Kriegsende – bildete eine Gedenk- und Vortragsveranstaltung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Jüdischen Gemeinde mit dem Schriftsteller Siegfried Einstein zum Thema Antisemitismus die einzige Veranstaltung in Mannheim, die über eine kurze Andacht oder politische Kundgebungen hinausreichte.

Eine Zäsur bildete das Jahr 1980. Der Kalte Krieg hatte sich nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und dem NATO-Doppelbeschluss 1979 zugespitzt, die Friedensbewegung erstarkte und die Angst vor einem neuen Krieg beherrschte weite Teile der Gesellschaft. Zugleich hatte die Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie "Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss" in Deutschland ein Millionenpublikum erreicht und breite Diskussionen über die NS-Vergangenheit ausgelöst.

Am Wochenende des 10./11. Mai 1980 fand im Mannheimer Rosengarten ein bundesweiter antifaschistischer Kongress mit dem Titel "8. Mai – 35. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus und Krieg" mit etwa 1.000 Teilnehmern statt, der von antifaschistischen Gruppen, Verfolgtenverbänden, Jugendorganisationen, Gewerkschaften und Einzelpersönlichkeiten organisiert wurde. Vor Beginn des Kongresses nahmen zwischen 12.000 (Polizeiangaben) und 25.000 (Angaben der Veranstalter) Personen an einer Großdemonstration durch die Innenstadt teil – es war die bis heute größte Veranstaltung zum 8. Mai in Mannheim. Zu den Rednern der Kundgebung sowie des Kongresses zählten u.a. der Theologe Walter Kreck, der Politologe Wolfgang Abendroth, der Theologe und KZ-Überlebende Martin Niemöller sowie der Widerstandskämpfer und VVN-Mitbegründer Emil Carlebach. Am Samstag fand darüber hinaus ein "Antifaschistischer Abend" mit großem Kulturprogramm statt.

Plakat zur Demonstration am 10. Mai 1980

Inhaltlich stand das Wochenende ganz im Zeichen der Zeit, indem der Gegenwartsbezug der Erinnerung an den Nationalsozialismus das eigentliche Gedenken mit politischen Forderungen und Protestartikulationen überlagerte: Hauptthemen des Kongresses wie auch der Demonstration waren etwa das internationale Wettrüsten und die atomare Bedrohung, das Eintreten für eine Wiederaufnahme der unter Bundeskanzler Willy Brandt begonnenen Entspannungspolitik, aber auch die Forderung nach einem Verbot aller neonazistischer und faschistischer Gruppierungen.

Demonstrationszug durch die Planken am 10. Mai 1980

Pastor Martin Niemöller bei seiner Rede vor dem Rosengarten

Fünf Jahre später, am 40. Jahrestag des Kriegsendes, erreichten die Veranstaltungen in Mannheim zwar bei weitem nicht die quantitative Dimension von 1980, doch fanden am 8. Mai 1985 – wie im gesamten Bundesgebiet – mehrere Gedenk- und Vortragsveranstaltungen statt, und auch die politische Brisanz der Veranstaltungen war noch immer gegeben.

So luden etwa die SPD und der DGB zu einer Kundgebung und Abendveranstaltung mit dem Titel "Nie wieder Krieg" in die Alte Feuerwache ein, bei der der SPD-Kreisvorsitzende Karl Feuerstein ausdrücklich darauf hinwies, dass man angesichts der grassierenden Schlussstrich-Forderungen aus dem konservativen Lager und der Auseinandersetzungen um die Geschichtspolitik der Regierung Kohl bewusst auf eine parteiübergreifende Veranstaltung verzichtet habe: "Wir möchten nicht mit denen eine solche Veranstaltung durchführen, bei denen die Opfer des Nationalsozialismus und ihre Nachkommen darum bitten müssen, beim Gedenken an den 8. Mai 1945 beachtet zu werden."

Zur Bedeutung des 8. Mai zitiert der Mannheimer Morgen den Sozialdemokraten: "In das Ende des Krieges und damit des Nazi-Gewaltregimes mische sich Trauer um Millionen Tote, um Opfer der Vertreibung und zerstörte Städte. Zur Trauer kam die Scham über Verbrechen, die von Deutschen begangen worden waren, kulminierend im Mord an Millionen Juden und den Greueln der Konzentrationslager."

Unabhängig von der Veranstaltung in der Feuerwache hatte am Mittag ein "Arbeitskreis für Frieden und Abrüstung" eine Gedenkkundgebung am Friedensengel durchgeführt, bei der auch die Verlegung des Mahnmals vom Schillerplatz an den abseitig gelegenen neuen Standort in E 6 kritisiert und als bezeichnender Ausdruck einer weit verbreiteten Schlussstrich-Mentalität gewertet wurde.

Plakat des Stadtjugendrings Mannheim zum 8. Mai 1985

Darüber hinaus lud der Stadtjugendring am 8. Mai 1985 zu einer öffentlichen Mitgliederversammlung mit Veranstaltungsprogramm in das Forum der Jugend (heute: Jugendkulturzentrum FORUM). Dabei wurde ein Dokumentarfilm zum Kriegsende in Mannheim gezeigt, es fanden Zeitzeugengespräche, politische Diskussionsrunden sowie ein Vortrag zum Thema Auschwitz-Leugnung (Referent: Helmut Just, Richter am Amtsgericht Mannheim) statt; zudem wurde von Bürgermeister Manfred David der Jugend-Wettbewerb "Jugend unter dem Hakenkreuz" eröffnet.

Abschließend verabschiedeten die im SJR zusammengeschlossenen Jugendverbände eine gemeinsame "Erklärung […] zum 8. Mai – 40 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus", in der der "unzähligen Opfer des Krieges und der nationalsozialistischen Barbarei" gedacht und als Lehre aus der Vergangenheit der Einsatz für Frieden und Volkerverständigung zum Ausdruck gebracht wurde.

Gemeinsame Erklärung der Mannheimer Jugendverbände im Mai 1985

Seit 1985 fanden in Mannheim keine größeren Veranstaltungen zum 8. Mai mehr statt. Zwar führten einzelne Gruppen und Organisationen wie die VVN, das Jugendzentrum in Selbstverwaltung "Friedrich Dürr" sowie der "AK Antifa" seit den 2000er Jahren mehrmals Befreiungsfeiern durch, und regelmäßig widmen sich Schulen dem Thema – wie etwa das Lessing-Gymnasium mit einem Projekttag "Erinnern reicht nicht" im Jahr 1995 – doch erreichen diese Veranstaltungen und Projekte meist nur eine kleine Zahl von Bürgerinnen und Bürgern. Als das Friedensplenum Mannheim am 8. Mai 1995 eine Gedenkkundgebung auf dem Paradeplatz abhielt, berichtete der Mannheimer Morgen im Nachgang: "An Bücherständen und auf Infotafeln wurde an das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor 50 Jahren erinnert. Doch nur wenige Passanten zeigten Interesse und blieben stehen, ohne größere Resonanz verlas eine Sprecherin den Aufruf der Friedensbewegung zum ‚Tag der Befreiung‘."

 

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