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Mannheim und die „moderne Tanzkultur“ in der Zwischenkriegszeit: Annemarie Fuss und die Schule für Körperbildung und Tanz unterm Hakenkreuz

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Portrait von Annemarie Fuss um 1932, Foto: Nachlass Henry und Ilse Ormond.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933 unterlag das „Tanzwesen“ sukzessive der NS-Tanzpolitik und der damit einhergehenden „Säuberung“ der deutschen Tanzszene von allem Jüdischen. Das Auftreten von Juden auf den deutschen Bühnen setzte die Zugehörigkeit zu einem der Fachverbände der Reichstheaterkammer voraus. Nichtariern wurde jedoch die Aufnahme in diese Verbände gemäß Paragraph 10 der ersten Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz verweigert. Mit dem Berufs- und Auftrittsverbot fand auch die Schule für Körperbildung und Tanz von Annemarie Fuss im Jahr 1938 ein jähes Ende, die sie seit 1931 in Mannheim leitete.

Annemarie Fuss war eine Tänzerin und Gymnastiklehrerin. Sie wurde am 15. Oktober 1906 in Berlin-Charlottenburg als Tochter des jüdischen Kaufmanns Moritz Fuss und seiner Frau Helene Oettinger, Tochter des jüdischen Fabrikanten Louis Oettinger aus Mannheim, geboren. Sie besuchte von 1913 bis 1919 das Fürstin-Bismarck-Lyzeum in Charlottenburg und wohnte nach dem frühen Tod des Vaters ab 1919 in Mannheim.  Hier besuchte sie von 1920 bis 1925 die Realabteilung in der Liselotteschule, wo sie das „Abiturium“ machte. Schon früh begeisterte sich Annemarie Fuss für das Tanzen und führte immer wieder bei Jugendveranstaltungen, u.a. am Mannheimer Nationaltheater, eigens choreographierte Tänze auf.


Portrait von Annemarie Fuss um 1932, Foto: Nachlass Henry und Ilse Ormond.

Im Herbst 1925 trat sie in die Ausbildungsklasse der Schule für Körperbildung und Tanz von Frieda Ursula Back ein. Nach Abschluss ihrer Ausbildung im Jahr 1927 ging sie für weitere Studien an die Wigman-Schule nach Dresden. Im Spätjahr 1929 wurde sie von Frieda U. Back als Assistentin an deren Schule für Körperbildung und Tanz nach Mannheim engagiert, bis sie ab September 1931 die Schule selbstständig weiterführte. Mit öffentlichen Unterrichtsstunden, die 1932 im Harmoniesaal in D 2, 6 stattfanden, gab Annemarie Fuss zudem Einblicke in die Arbeit ihrer Schule. Musikalisch unterstützt wurde sie u.a. von Mannheimer Komponist*innen, wie z. B. der Komponistin Aleida Montijn, die später mit der Tänzerin Mary Wigman zusammenarbeitete.

Im August 1932 wirkte Annemarie Fuss bei den Salzburger Festspielen als Mitglied der „Tänzergruppe Margarete Wallmann“ an einer Aufführung der Feen-Oper „Oberon“ und des Bewegungsdramas „Das Jüngste Gericht“ mit. Am 1. März 1933 übernahm sie dann allein die Leitung der Schule für Körperbildung und Tanz von Frieda U. Back. Die Unterrichtsräume befanden sich weiterhin im Gutenbergsaal des Hauses N 2, 12, ab 1936/37 in der Augusta-Anlage 38 und 1938/39 in N 7, 8. In ihrer Schule unterrichtete Annemarie Fuss durchschnittlich 50 Schülerinnen im Alter von drei bis 13 Jahren. Ebenfalls gliederte sie ihrer Schule eine Tanzgruppe an, die ihre Tanzkunst auf verschiedenen Veranstaltungen und Kinderfesten präsentierte.


Neue Mannheimer Zeitung, Nr. 426, 13.9.1932 (Abendblatt). MARCHIVUM.

Da Annemarie Fuss, soweit bekannt, keine Briefe oder andere schriftlichen Unterlagen hinterlassen hat, ist über die Zeit ab 1933 nur noch wenig bekannt. Mit Hitlers Machtergreifung 1933 unterlag die Schule für Körperbildung und Tanz jedoch sukzessive der NS-Tanzpolitik und der damit einhergehenden „Säuberung“ der deutschen Tanzszene. Das Auftreten jüdischer Tänzer*innen auf Bühnen setzte deren Mitgliedschaft in einem der Fachverbände der Reichstheaterkammer voraus, wobei Nichtarier*innen von diesen kategorisch ausgeschlossen waren. Annemarie Fuss trat somit noch gelegentlich bei Unterhaltungsabenden jüdischer Vereine als Tänzerin auf und gab jüdischen Kindern, etwa zum Purim-Fest, Tanzunterricht.


Annemarie Fuss in einem schwarzen Tanzkleid, 1932. Foto: Nachlass Henry und Ilse Ormond.

Mit dem Berufs- und Auftrittsverbot fand ihre Schule für Körperbildung und Tanz ein jähes Ende. Die Anzahl der in Mannheim geführten Tanz- und Gymnastikschulen nahm in den Jahren von 1933 bis 1939 stetig ab. Waren im Jahr 1932/33 noch 20 Gymnastikschulen in den Mannheimer Adressbüchern aufgeführt, so gab es 1936/37 nur noch neun. An den privaten Unterrichtsstunden in der Schule für Körperbildung und Tanz durften ab 1936 nur noch jüdische Schüler*innen teilnehmen. Die NS-Kulturpolitik veranlasste viele Tänzer*innen zur Ausreise. Bereits 1936 emigrierte die jüdische Tanzlehrerin Irmgard Marx, geborene Mayer, nach New York; Hanne Mann, deren Nachfolgerin, wanderte zwei Jahre später ebenfalls nach New York aus.

Bereits im Jahr 1937 musste Annemarie Fuss die Unterrichtsräume in N 2, 12 verlassen. Ihre Gymnastikschule führte sie wohl nur noch bis 1938 in den Geschäftsräumen der Karl-Ludwig-Straße 38 weiter. Infolge der existenzvernichtenden Judengesetze ab 1938 und der zunehmenden Verfolgung und Verdrängung von Juden, die ihren Höhepunkt in der Reichspogromnacht vom 9. Auf den 10. November 1938 fand, entschlossen sich viele Mannheimer Jüd*innen zur Auswanderung.

Am 5. Januar 1939 emigrierte Annemarie Fuss nach Paris. Ob sie die damals schon nicht mehr leichte Einreise nach Frankreich der Fürsprache anderer geflüchteter Tänzerinnen – wie etwa Jula Isenburger, Mila Cirul oder Julia Marcus – und ihrer Förderer zu verdanken hatte, lässt sich nur vermuten, nicht mehr belegen. Annemaries Mutter Helene Fuss folgte ihr erst im Juli 1939 in die Emigration und starb bereits ein Jahr später, im August 1940, im Jüdischen Krankenhaus „Hôpital Rothschild“. Annemarie Fuss wohnte mindestens bis Juni 1941 in der Rue Greuze 28, im 16. Arrondissement von Paris. Infolge der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 wurde ihr die deutsche Staatsbürgerschaft im Dezember 1941 aberkannt. Danach lebte sie vermutlich untergetaucht im besetzten Frankreich – wo und unter welchen Umständen, ist bis heute nicht bekannt. Nach dem Krieg heiratete Annemarie Fuss den ehemaligen Verwaltungsdirektor des „Hôpital Rothschild“ und Résistancekämpfer Samy Halfon, der in den 50er und 60er Jahren zu einem von Frankreich wichtigsten Filmproduzenten werden sollte.

Die Mannheimer Ausdruckstänzerin Annemarie Fuss, verheiratete Halfon, starb am 4. Mai 1949, im Alter von 42 Jahren, in einem Pariser Krankenhaus an Krebs. Laut Eintrag im Sterberegister war sie zuletzt „ohne Beruf“. Die NS-Verfolgung, die dadurch erzwungene Emigration und der Krieg hatten ihre berufliche Existenz zerstört.

Literatur:
Gerber, Miriam: The Life of Miriam, Bloomington 2010.
Guilbert, Laure: Danser avec le IIIe Reich. Les danseurs modernes et le nazisme, Bruxelles 2000.
Karina, Lilian / Kant, Marion: Tanz unterm Hakenkreuz, Berlin 1996.

 

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