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Inge, Hans und Christel - Aufstieg und Ende der Mannheimer Schildkröt-Puppen

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Puppenköpfe von Schildkröt, 1955

Als Rheinische Hartgummiwarenfabrik wurde am 3. April 1873 in Neckarau von Friedrich Julius Bensinger, dem Bankhaus H. L. Hohenemser und den Brüdern Victor und Alfred Lenel ein Unternehmen eingetragen, dessen Produkte weltweit die Kinderherzen erobern sollten.

Wurden zunächst vorzugsweise Kämme und Schmuckteile aus Hartgummi produziert, begannen 1880 Bensinger und der Chemiker Fritz Jander mit dem in Amerika entwickelten Celluloid zu experimentieren. Indes wies die mit Schwefel- und Salpetersäure nitrierte Cellulose, die mit Kampfer zu Rohcelluloid verarbeitet werden kann, eine hohe Feuergefährlichkeit, ja Explosivität auf. So kam es 1885 zu einem vernichtenden Brand, der die Stilllegung der Produktion für einige Monate nach sich zog.

Der große Durchbuch in der Entwicklung gelang dann Robert Zeller mit einer neuen Pressblas-Technik, bei der das erhitzte Celluloid mit Druck in Formen gepresst und zu einem Hohlkörper gefertigt werden konnte. 1896 erblickte die erste Stehpuppe in Neckarau das Licht der Welt. Das neue leichte, lichtechte und hygienische Puppenmaterial wurde vom Handel anfangs nur zögerlich angenommen, erlebte dann aber einen Boom. Nach Anlauf der Puppenproduktion wurde das Spielzeug mit dem bekannten Schildkröt-Logo versehen – ein Zeichen auch für die Langlebigkeit des Materials.



Der Umgang mit den gefährlichen und aggressiven Stoffen war jedoch für Mensch und Umwelt keineswegs unproblematisch. Dabei zeigte die Firma durch viele freiwillige Leistungen sehr früh ein ungewöhnliches Engagement im sozialen Bereich. Ab 1887 gab es eine Werkskrankenkasse; es folgten Kantinen, öffentliche Bäder, ein Unterstützungsfonds, häusliche Pflege, eine Werksbücherei und verschiedene Kindereinrichtungen mit Milchküche und Wöchnerinnenasyl.

Der Höhepunkt in der Firmengeschichte wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. In drei Werken in Rheinau und Neckarau waren rund 6.000 Menschen beschäftigt. Bis 1916 lag die Anzahl an Puppenmodellen bei später nie wieder erreichten 120. Die Rheinische Gummi- und Celluloid-Fabrik, wie die Firma seit 1885 hieß, exportierte neben den Fertigprodukten auch Rohcelluloid in alle Welt.

Nach dem wirtschaftlichen Einbruch durch den Krieg erholte sich das Unternehmen nur zögernd. Konkurrenz aus aller Welt, billigere Puppenplagiate aus Japan und die schlechte Konjunktur machten ihm zu schaffen. Das als Abhilfe gedachte neue Werk zur künstlichen Kampfer-Herstellung wurde neben anderen Fehlkalkulationen zum Fallstrick, der den Familienbetrieb an den Rand des Konkurses brachte. 1929 wurde die Firma von der IG Farben-Gruppe übernommen. Durch Neustrukturierung, Rationalisierung und eine neue Marktausrichtung konnte ein weiterer Abstieg aufgehalten werden. Neuentwicklungen wie das vollsynthetische Igelit, besser bekannt als PVC, förderten den Aufschwung. Mit innovativen Puppenmodellen und Werbestrategien, z.B. den kostenlosen Schildkröt-Märchenbüchern, gelang auch im Spielzeugbereich ein neuerlicher Aufschwung, von dem noch heute viele bekannte Klassikerpuppen wie Inge und Hans oder Bärbel und Christel zeugen.

Fertigung von Puppenköpfen bei der Schildkröt AG, 1955

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen zunächst die Alliierten das wegen seiner Zugehörigkeit zum IG Farben-Konzern in Misskredit geratene Unternehmen. Erst 1952 hob die amerikanische Militärregierung alle Beschränkungen auf, und die neue WASAG Chemie AG übernahm die volle Kontrolle. 1965 erhielt die Rheinische schließlich den Namen Schildkröt AG. Mit der Neuentwicklung Tortulon, einem schwer entflammbaren Kunststoff, einer breiten Produktionspalette aus PVC und Folien einerseits, der Spielzeugproduktion von der Puppe bis zum Tischtennisball andererseits wies die Firma nunmehr einen Mix auf, der sich jedoch nicht bewähren sollte. Der Wechsel von Partnerfirmen war begleitet vom Erwerb neuer Töchter wie der Trix Spielwarenfabrik oder der französischen Poupée Bella.

1970 begann mit ersten Massenentlassungen das Ende auf Raten. Die Spielzeugproduktion der Teilfirma Schildkröt Trix Spielwaren GmbH wurde nach Nürnberg verlagert, die Puppenproduktion nach Frankreich. In Neckarau verblieb die Schildkröt Kunststoffwerke AG. 1971 wurde die Firma an Braas & Co GmbH verkauft, die bis 1987 in Neckarau Tischtennisbälle und Kleinkinderspielzeug herstellte.

1975 kam das endgültige Aus für die Puppenherstellung in Mannheim. Die Produktion wurde ins Ausland verlagert, die Rechte schließlich an die Firma Biemann in Kaufbeuren verkauft. Die heutige Schildkröt Puppen und Spielwaren GmbH begann am 1. Januar 1993 in Rauenstein bei Sonneberg in Thüringen die Produktion und stellt seither erfolgreich die Klassiker und neue Künstlerpuppen her. Tischtennisbälle und Zubehör finden sich heute bei Donic Schildkröt der Olin Enterprise Ltd., einer Firma mit Sitz in Hongkong.

Das abgebrochene Neckarauer Werk, das so "brandgefährlich" angefangen und die Entwicklung eines ganzen Stadtteils über Jahrzehnte geprägt hat, ist mit seinem Schildkröt-Emblem und manchen Puppen gleichwohl bis heute noch in vielen erwachsenen "Kinderherzen" präsent.