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Mannheim in der Studie von Géraldine Schwarz "Die Gedächtnislosen"

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Blick in die Neckarstadt

Kaum ein Sachbuch hat seit seinem Erscheinen im Bereich der Erinnerungskultur für mehr Furore und Aufmerksamkeit gesorgt als die Studie von Géraldine Schwarz. Unter dem Titel "Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin" wurde das 2017 erschienene Werk bereits nach einem Jahr ins Deutsche übersetzt. Von der Literaturkritik ebenfalls hochgelobt, erhielt es noch im selben Jahr in der Kategorie "Roman" den Preis des Europäischen Buches.

Die Autorin, 1974 in Straßburg geboren und in Berlin lebend, arbeitete lange als Korrespondentin für die Nachrichtenagentur Agence France Press (AFP), inzwischen ist sie als freie Journalistin, Publizistin und Dokumentarfilmerin tätig. Ihr sehr persönliches Buch ist ein einzigartiges Plädoyer gegen das Vergessen einer Zeit, in welcher der Faschismus halb Europa beherrschte und der Nationalsozialismus wütete. Dabei verknüpft Géraldine Schwarz diese Betrachtungen mit der eigenen Familiengeschichte, die von ihrer deutschen und französischen Großelterngeneration geprägt ist. Gleichzeitig behält sie immer das große Ganze, den europäischen Rahmen im Blick. Erinnerungsarbeit ist ihr, wie sie mehrfach betont, zur Obsession geworden. Und die eigene Zunft mag es mit Vergnügen lesen, wenn sie bereits in der Einleitung bekundet: "Es gilt, das Gedächtnis einer Familie dem Urteil und der Weisheit der Historiker zu unterwerfen, diesen Lügen- und Mythenjägern."

Ihr Buch hat sehr viel mit Mannheim zu tun, nicht nur, weil Géraldine Schwarz hier Anfang der 1990er-Jahre studierte. Die Stadt ist ihr seit Kindestagen vertraut, denn ihr Vater stammt aus der Neckarstadt. Auch wenn er mit seiner Familie den Lebensmittelpunkt in Frankreich wählte, besuchte er doch immer wieder seine Geburtsstadt und seine Mutter bis zu deren Tod. Die familiären Gespräche in Mannheim kreisten dabei nicht selten um die erlebte und doch auch in bestimmter Weise tabuisierte eigene Familiengeschichte.

Feuerwache Mannheim, um 1930

Erst die beim Aufräumen im Keller aufgefundenen Familiendokumente ließen Géraldine Schwarz erkennen, auf welche Weise genau ihr Großvater Karl Schwarz einst als Ariseur tätig gewesen war, der von der Not der Juden profitiert hatte. Im August 1938 war ihm ein Mineralölgeschäft unter Wert übereignet worden. Den jüdischen Eigentümern, den Brüdern Siegmund und Julius Löbmann sowie deren Schwager Wilhelm Wertheimer, war in jenen Tagen nichts Anderes übriggeblieben, als ihren Betrieb in der Helmholtzstraße 7 a – also in Nachbarschaft zum MARCHIVUM – zu verkaufen. 1948 hatte Karl Schwarz dann Nachricht von einer Anwältin Julius Löbmanns, des einzigen Überlebenden der drei Eigentümer, erhalten. Es folgte eine über Jahre sehr erbittert geführte Auseinandersetzung um die Frage einer angemessenen Entschädigung.

Die alte Korrespondenz um die Höhe des Ausgleichs diente Géraldine Schwarz als Hauptquelle und Ausgangspunkt, um sich ganz tief in die Geschehnisse und in die Familiengeschichte einzuarbeiten. Gewinnbringend nutzte sie dabei auch die große Studie von Christiane Fritsche über die Mannheimer Arisierung. So konnte sie den Einzelfall in den allgemeinen Kontext der Lokalgeschichte einbetten. Zugleich bereichert sie mit ihrer Familiengeschichte die Geschichtsforschung zur Quadratestadt um ein weiteres, bis dato weitgehend unbekanntes Beispiel.

Die Familien Löbmann und Wertheimer waren bislang vor allem durch die tragischen Schicksale der Kinder bekannt. Fritz Löbmann, Sohn von Julius Löbmann, und Otto Wertheimer, Sohn von Wilhelm Wertheimer, zählen zu den vier Mannheimer "Kindern von Izieu". Sie wurden am Gründonnerstag, dem 6. April 1944, mit weiteren 42 Kindern sowie sechs Erwachsenen bei einer Razzia – veranlasst durch den Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie – verhaftet und nach Drancy verschleppt. Wenige Tage später ging von dort der Transport nach Auschwitz. Am 15. April 1944 kamen die vier Kinder im KZ an und wurden sogleich in die Gaskammern geschickt.

Von den Familien Löbmann und Wertheimer konnten nur Julius Löbmann und seine Schwägerin Irma überleben. Julius gab sich nach einer geglückten Flucht aus dem französischen Nebenlager Les Milles als taubstumm aus und vermochte so, als Liftboy in einem großen Hotel an der Côte d´Azur, in der italienischen Besatzungszone der erneuten Deportation und dem Tod zu entkommen, obwohl 1944 die deutsche Wehrmacht auch hier einmarschiert war. Nach dem Krieg fand er in Chicago eine neue Heimat; über seine Anwältin Rebstein-Metzger forderte er dann Wiedergutmachung von Karl Schwarz. Schwarz, der sich im Ölhandel auskannte, hatte gezielt gemeinsam mit seinem Partner Max Schmidt den in Bedrängnis geratenen Mannheimer Betrieb ausgesucht, um ihn möglichst preiswert zu erwerben. Bis zum Novemberpogrom 1938 konnte Julius Löbmann noch in seinem alten Betrieb mitarbeiten.

Teile des Firmengeländes der „Siegmund Löbmann & Co. Technische Öle und Fette“
Das Gelände, im Bild unten Mitte, war am südlichen Ausläufer des Hafenbeckens Bonadieshafen, aus heutiger Sicht auf der Rückseite der Autohändler-Niederlassung.

Zu einer persönlichen Begegnung der beiden Männer nach dem Krieg sollte es nicht mehr kommen; erst nach langem Ringen vermochten sie sich auf einen Vergleich zu einigen. Stets stellte sich Karl Schwarz im Briefwechsel mit Chicago als Opfer des verlorenen Krieges dar und auch gegenüber der Stadt Mannheim argumentierte er 1952 gegen eine Mieterhöhung u.a. damit, "dass wir im Rückerstattungsverfahren gegenüber dem früheren jüdischen Besitzer ganz erhebliche Nachzahlungen werden leisten müssen und zwar mindestens nochmals den ganzen Gegenwert." Echte Empathie für das Schicksal des jüdischen Vorbesitzers, gar Schuldbewusstsein hinsichtlich des eigenen Verhaltens ist nirgends zu bemerken. Hierin ist er, wie Géraldine Schwarz zu Recht bemerkt, durchaus typisch für das Gros der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Géraldines Vater Volker sollte die Studentin Josiane in Paris kennen und lieben lernen, womit dann einer deutsch-französischen Ehe im Mai 1971 nichts mehr im Wege stand. Josianes Vater hatte im Krieg als Gendarm in Mont-Saint-Vincent, einem Dorf in der freien Zone im Dep. Saône-et-Loire, seinen Dienst versehen und nach der Besetzung durch die Deutschen im November 1942 gefahrvolle Stunden verbracht, als etwa Angehörige der Résistance bei ihm versteckt wurden. Volker Schwarz sollte zeitweise wieder in Deutschland arbeiten. Nach der Wende war er für die Treuhand tätig und vermittelte seiner Tochter ein sehr anschauliches Bild von den Umbrüchen der 1990er-Jahre.

Doch die Familiengeschichte ist für Géraldine Schwarz nur Folie, um zu verdeutlichen, wie sehr Europa auf den Erfahrungen des erlebten Totalitarismus und seiner Überwindung seine Identität aufbauen kann. In der kollektiv gespeicherten Erinnerung sieht sie den besten Schutzschild, um politisch wachsam zu sein. Der schrittweise Weg Deutschlands zu einer breiten Erinnerungskultur, die historische Gedächtnisarbeit ist für sie beispielhaft, um ein erneutes Abgleiten in nationalistische bzw. rechtspopulistische Strömungen – die sie besonders in Italien, Österreich und dem ehemaligen Ostblock beobachtet – zu verhindern. Ihr Buch ist allein schon wegen seines leidenschaftlichen Duktus absolut lesenswert. Überzeugend sind ihre ebenso tiefschürfenden Analysen wie ihre Sorge um das Vergessen und Relativieren. Ein Buch, das zu fesseln versteht – nicht nur wegen des Blicks auf Mannheim.

Géraldine Schwarz, Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin. Aus dem Französischen übersetzt von Christian Ruzicska, Secession Verlag, Zürich 2018. 445 S. 28,80 Euro.

Vorabdruck aus den Mannheimer Geschichtsblättern, 38, 2019 (leicht gekürzte Fassung).

 

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