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"Wilde Siedlungen" in Mannheim - Die Spelzengärten

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Bild schwarz-weiß einer Familie vor ihrem Elendsquartier, um 1930

Eine Laube, ein paar Hühner, ein bisschen Gemüse - was für manche wie ein idyllisches Träumchen klingt, war vor ungefähr einhundert Jahren bittere Realität in den Spelzengärten am Rande der Neckarstadt. Warum es sich um eine "bittere Realität" handelte und was es genau bedeutete, in den Spelzengärten zu wohnen, ist Gegenstand einer soziologischen Studie der Schülerinnen "der obersten Klasse der Städtischen Sozialen Frauenschule" von 1931. Anhand dieser Studie soll im Folgenden eine Zeitreise in die Neckarstadt der Weimarer Republik unternommen werden.

Die Spelzengärten waren schon seit langem ein Begriff in Mannheim. Zunächst als Anbaugebiet für regionale Güter genutzt, wurde das Gebiet später eine "wilde Siedlung", wie es sie viele in den Industriestädten Europas gab. Sie entstanden als Folge der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sorgten dafür, dass sich zahllose Menschen auf diese Weise niederließen. Die Autorinnen der angesprochenen Studie beschreiben eine "wilde Siedlung" zunächst als eine "selbstgewählte Niederlassung armer, arbeitsloser, arbeitsscheuer, auch zum Teil verbrecherischer Menschen, die sich auf nicht erschlossenen Gebieten, oft in früheren Schrebergärten ansiedeln." Es sei "jede Industriestadt mit teurer Lebenshaltung und hohen Mieten" mit diesem Phänomen konfrontiert.

In Mannheim gab es in verschiedenen Gebieten wilde Siedlungen. Die größte entstand in der heutigen Neckarstadt-Ost zwischen der Carl-Benz-Straße im Süden und dem Huthorstweg im Norden. Als mittlere Achse des Gebietes fungierte die frühere Hohwiesenstraße, die heute August-Kuhn-Straße heißt. Vertikal verlaufende Gartenwege sorgten für den Zugang zu den einzelnen Gärten. Es gab zwölf dieser Gartenreihen. Inmitten von Schrebergärten lagen die Reihen 7, 8, 11 und 15, die als die eigentlichen Elendsquartiere galten. Das gesamte Gartenareal hatte eine ungefähre Größe von 0,25 Quadratkilometern.

Spelzengärten, 1935

Für ihre Studie besuchten die Schülerinnen die Spelzengärten und führten Befragungen mit den Bewohnern durch. Das Erscheinungsbild der Siedlung beschrieben sie als von der Jahreszeit abhängig. So sei es im Frühling aufgrund der Farbenpracht und den vielen blühenden Gewächsen am schönsten gewesen. Der Sommer, der immerhin noch schöner als der karge Winter gewesen sei, büßte dagegen wohl schon aufgrund der Gerüche und der Trockenheit an Schönheit und Aufenthaltsqualität ein.

Gerüche kamen auf, weil es an grundlegender sanitärer Infrastruktur mangelte. So war kein Anschluss an das Kanalsystem gegeben. Auch der Zugang zu Wasser war mangelhaft, womit sich die Trockenheit erklären lässt. Überdies, so fanden die Schülerinnen heraus, wurde es "in einigen Fällen als ungenießbar bezeichnet". Das spärlich verfügbare Wasser taugte also mitunter nicht einmal zum Trinken. Insgesamt bilanzieren die Autorinnen, dass die Wohnverhältnisse in den Spelzengärten "wohl das übertreffen, was sonst in der Stadt Mannheim an elenden Wohnungen gefunden werden kann."

Das Wort "Haus" sei in den meisten Fällen auch keine treffende Bezeichnung, für das, was in den Spelzengärten von den Menschen bewohnt wurde. Es seien eher "Hütten aus Holz oder Stein, in denen ein mittelgrosser Mensch leicht mit der Hand an die Decke reichen kann" gewesen. Zwar gab es wohl auch unter diesen Behausungen schöner hergerichtete mit ansehnlichem Garten, doch gab es richtige Häuser nur vereinzelt. Es werden beispielhaft eine Näherin oder ein Handwerksmeister erwähnt, die sogar zweistöckige, mit Elektrizität ausgestattete Häuser bewohnten. Sie gehörten wohl zu den Ersten, die die Spelzengärten besiedelten und bedauerten in der Befragung nun die "schlechte Nachbarschaft".

Somit hoben sich die "wilden Siedlungen" im Großen und Ganzen noch einmal von den allgemein schlechten Wohnverhältnissen der Armen in diesen Zeiten ab. Als Beleg für diesen Sonderstatus kann auch die Verfassung der Kinder gelten, die im Vergleich zu den Kindern anderer armer Gegenden in der Studie als verwahrloster beschrieben werden. Um die Kinder zu beherbergen, gab es immerhin einen katholischen Kindergarten, der im Winter 40-45 Kinder, im Sommer 30 Kinder betreute. Lediglich der Gesundheitszustand der Menschen habe sich nicht sonderlich von dem in anderen Armenbezirken unterschieden.

Die Zahl der Menschen, die dieses Gebiet bewohnten, wird als sehr dynamisch beschrieben. So seien viele Behausungen einer konstanten Fluktuation ausgesetzt gewesen. Besonders Schausteller zählten zu den vorübergehenden Bewohnern der Spelzengärten. Zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahr 1931 hatten 646 Bewohner in 163 Behausungen ihren Wohnsitz. Von diesen seien 171 Kinder, also jünger als 14 Jahre, gewesen. Die Erwachsenen teilten sich in 254 Männer und 221 Frauen, von denen 145 in Ehe lebten, 70 ledig waren und 47 verwitwet oder geschieden waren.

Mannheimer Familie vor ihrem Elendsquartier, um 1930

Der Rest machte hierzu wohl keine Angabe. Generell, so berichten die Autorinnen, sei es kein Problem gewesen, mit den Menschen in Kontakt zu treten. Oftmals hätten sie sich selbst in Gespräche eingeschaltet und aus ihrem Leben berichtet. Von den 212 erwachsenen Männern waren 61 erwerbstätig, 11 in Rente und 140 ohne Arbeit. Unter den 14- bis 20-Jährigen gab es sogar nur drei Erwerbstätige. Von den 221 Frauen waren zum Zeitpunkt der Befragung 19 in Arbeit, sieben in Rente und 169 arbeitslos. Die verbliebenen Frauen sind von der Befragung nicht erfasst.

Die meisten Arbeitslosen seien davor Fabrikarbeiter, Tagelöhner oder Handwerker gewesen. Und auch die größte Zahl der Väter der Bewohner ging solchen Berufen nach. Dieser Umstand stößt auf Verwunderung bei den Autorinnen, waren sie doch davon ausgegangen, dass der Anteil derer, deren Väter Gärtner oder Landwirte waren, weitaus größer sei. Es zeigt sich also auch hier, dass die Spelzengärten kein Wohnort waren, den man sich aussuchte, weil er zum eigenen Lebensentwurf passte, sondern vor allem die Alternativlosigkeit zum Einzug in die wilde Siedlung zwang.

So werden die Menschen zum Großteil als von der Gesellschaft abgeschieden beschrieben. Das Ausmaß der sozialen Schieflage der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg zeigt sich überdies darin, dass vielen Bewohnern der Spelzengärten, aber sicherlich auch anderer Armutsbezirke, "der stete Versuch, Unterstützungen von irgendeiner Fürsorgestelle herauszuschlagen" als "fast einziger Lebensinhalt" blieb. Darüber hinaus seien überdurchschnittlich viele Menschen vorbestraft gewesen und/oder dem Alkoholismus verfallen. Auch fällt in der Studie das Schlagwort der "wilden Ehe", die scheinbar ein gängiges Beziehungskonstrukt darstellte.

Trotz der eindeutigen Einstufung als Elendsviertel ist in der Publikation auch von "grosse[n] soziale[n] Unterschiede[n]" innerhalb der Bewohnerschaft die Rede. Dies ist nicht so zu verstehen, dass es Reiche in der Siedlung gab. Doch waren manche wohl in der Position, Behausungen oder Betten vermieten zu können. In der Studie wird sogar von "Ausbeutung" unter den Bewohnern gesprochen.

Trotz aller Schwierigkeiten wollten laut der Befragung aber nur ein Drittel der Bewohner aus den Spelzengärten wegziehen. Auf die Frage, wo sie lieber wohnen würden, gaben die meisten Arbeiterviertel wie den Waldhof, die Benzbaracken oder andere Teile der Neckarstadt zur Antwort. Nur wenige wagten, von der bürgerlichen Idylle Feudenheims oder des Lindenhofs zu träumen. Die anderen zwei Drittel gaben erstaunlicherweise an, aufgrund der frischen Luft und der Nähe zu den Tieren, die Spelzengärten nicht verlassen zu wollen.

Von allen Wohnungen waren 76 mit Stall und die Autorinnen berichten davon, dass oft Hunde und Katzen zu sehen gewesen seien. Die verbreitetsten Nutztiere waren wohl Hühner und auch Schweine. Pferde hatten zum Zeitpunkt der Befragung 13 Haushalte. Diese wurden nach Angaben der Besitzer für die Handelsgeschäfte bzw. zum Wagenziehen benötigt.

Die Existenz der Spelzengärten als wilde Siedlung fand im Jahre 1936 schließlich ein Ende. Als zentrales Areal, das sich vergleichsweise leicht an die bestehende Infrastruktur angliedern ließ, war es als Bauland attraktiv. Die größtenteils menschenunwürdigen Wohnverhältnisse machten ein Handeln von Seiten der Stadt ohnehin notwendig.

Dass die Spelzengärten überdies als Hochburg der kommunistischen Bewegung berüchtigt waren, ist zumindest für die Zeit vor dem Dritten Reich dokumentiert. Ebenso ist überliefert, dass eine Gartenlaube als Widerstandszelle der Lechleiter-Gruppe diente, in der gegen das NS-Regime gerichtete Flugblätter und die "Arbeiter-Zeitung" gedruckt wurden. Ob politische Gründe auch eine Rolle bei der Räumung spielten, geht aus entsprechenden offiziellen Akten jedoch nicht hervor. Die Bewohner, die im Zuge der Räumungen mit geringen Geldmitteln entschädigt wurden, wurden in der Folge in Notwohnungen im gesamten Stadtgebiet umgesiedelt.

Diese vor dem Dritten Reich noch legale Parteizeitung wurde während der Diktatur in einer Laube der Spelzengärten illegal weitergedruckt.

Während des Zweiten Weltkrieges entstanden noch einmal Notwohnungen von Obdachlosen. "Die letzten Reste der Spelzengärten verschwanden erst nach dem Krieg beim Bau des Herzogenriedbades 1956, spätestens aber bei der Anlage des neuen Meßplatzes 1962", lässt sich der Mannheimer Morgen vom 29.1.1993 zitieren.

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