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Lion Wohlgemuth

geboren am
Verfolgung

Jüdischer Kaufmann

Suizid 1938

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Gedemütigt, entrechtet, in den Tod getrieben - der Stolperstein für Lion Wohlgemuth
Redebeitrag von Michael Müller (Feuerwehr-Archiv Mannheim) im Rahmen der Stolpersteinverlegung am 06. Oktober 2021

Wer war Lion Wohlgemuth, für den wir am 6.10.2021 einen Stolperstein verlegen? Mit diesem Beitrag möchten wir sein Leben skizzieren.
Auf welche Quellen können wir uns dazu stützen? Wir haben zum einen die Lebenserinnerungen von Peter Rothschild, seinem Enkel, wir haben die im Leo Baeck Institut New York vorhandenen Familienstammbäume aus der Rosenthal Collection von 1935, wir haben die Berichte des Feuerwehrarchivars Karl-Johann Fleck und wir haben die Erinnerungen von der Zeitzeugin Frau Henriette Lucchesi.

Lion Wohlgemuth wurde am 14. Mai 1871 in Mannheim geboren. Die Eltern lebten in ärmlichen Verhältnissen, aber sie versuchten, die Anlagen und Neigungen von Lion und seiner Geschwister im Rahmen des Möglichen zu fördern. Nach der Volksschule absolvierte Lion Wohlgemuth eine kaufmännische Lehre, absolvierte im Badischen Heer seinen Militärdienst und wurde 1893 als Unteroffizier entlassen.
Eine berufliche Existenz begründete er mit dem von-Haus-zu-Haus-Verkauf von Lampenöl.
1897 heiratete er Melanie Gutmann und trat in deren Hutmachergeschäft in G 3, 1 ein. Er übernahm die Geschäftsführung und betrieb den Ausbau der weiteren Geschäftstätigkeit.
1898 kam Tochter Klara zur Welt, sie heiratete später den Arzt Dr. Paul Rothschild und die Familie emigrierte 1935 nach London.
1899 wurde Sohn Martin geboren. Er trat in den 1920er Jahren als promovierter Volkswirt in das Unternehmen der Eltern ein und führt es weiter. Nach Verhaftung durch die Gestapo am 11.11.1938 infolge des Novemberpogroms wurde er im Dezember 1938 aus dem KZ Dachau entlassen, und noch 1938 gelang die Emigration mit seiner Familie zunächst nach England und dann weiter nach Britisch-Ostafrika (dem späteren Kenia).

Das Gegenstück zur umfangreichen Geschäftstätigkeit von Melanie und Lion Wohlgemuth bildete das Familienleben, welches als Leben in Einfachheit, Häuslichkeit und dem Streben nach wahrer Kultur beschrieben wird. In diesem Umfeld wurden die Kinder zu Eigenverantwortlichkeit erzogen und ihre Selbständigkeit gefördert. Als Beispiel dienten die Eltern, deren natürliche und aufrechte Art sowie der Drang nach Gutem und Schönen. In der Familie war er der Patriarch, was er sagte, wurde getan.

Ab 1902 expandierte das Hutgeschäft und es wurden in den nachfolgenden Jahren Filialen in Ludwigshafen, Karlsruhe, Pforzheim, Konstanz, Straßburg, Essen, Saarbrücken, Frankfurt und Gelsenkirchen gegründet. 1911 ließ Lion Wohlgemuth das Haus hier in G 3, 20 errichten.

Der 1. Weltkrieg war ein Einschnitt – der damals schon 43-Jährige meldete sich 1914 als Freiwilliger für den Kriegseinsatz. Er diente zunächst an der Westfront, danach bis Kriegsende in Rumänien. Die Armee verließ er als Vizefeldwebel und wurde mit dem Eisernen Kreuz und der Badischen Verdienstmedaille ausgezeichnet.

Die Erfahrung von Armut und Not in der Kindheit prägten Lion Wohlgemuth und veranlassten ihn dazu, später durch sein Vermögen Gutes zu bewirken: Fleck beschreibt in seinen Erinnerungen Lion Wohlgemuth als mehrfachen Millionär und großzügigen Spender, der stets einsprang, wenn bei der Freiwilligen Feuerwehr etwas finanziell fehlte. Ebenso wird er als großer Wohltäter für die Stadt Mannheim und für karitative Anstalten sowie Organisationen, die im Dienste der Nächsten stehen, beschrieben.
Gleiches finden wir bei Rothschild, der neben Lion Wohlgemuths vielseitigen und ausgedehnten Geschäftstätigkeit dessen bürgerlichen Gemeinsinn betont und vom Engagement in der Freiwilligen Feuerwehr berichtet. 1926 richtete er bei der jüdischen Gemeinde zur Geburt des ersten Enkels die „Sophie und Jakob Wohlgemuth Stiftung“ (die Namen seiner Eltern) ein, deren Erträge unter den ersten und zweiten Leichenwächterfamilien verteilt wurden.

1927 – 1929 ließ Lion Wohlgemuth von dem renommierten Architekten Fritz Nathan ein großes Geschäftshaus in N 7 errichten, wo die Familie  eine neue Fabrikationsstätte sowiedas bald überregional bekannte Kaufhaus „Samt und Seide“ ansiedelte, das 1938 von Heinrich Vetter sen. „arisiert“ wurde.

Lion Wohlgemuth war zwischen 1890 und 1894 in die Freiwillige Feuerwehr eingetreten. In der Arbeiterabteilung der 1. Kompagnie leistete er bis in die 1920er Jahre Einsatzdienst. Er war Obmann in der 1. Kompagnie, bis er im Juni 1913 zum Adjutanten der Freiwilligen Feuerwehr ernannt wurde. 1914 wurde er mit der Verdienstmedaille der Stadt Mannheim für 20 Jahre treue Dienste als Feuerwehrmann (1894 – 1914) ausgezeichnet. Diese Verdienstmedaille liegt bei der Abteilung Innenstadt noch vor – auf der Medaille wurde versucht, den Namen Lion Wohlgemuth durch Auskratzen unleserlich zu machen. Im Jahr 1931, mittlerweile 60 Jahre alt, war er Ehrenadjutant in der Freiwilligen Feuerwehr Mannheim.
Nach 1933 wurde ihm als jüdischem Feuerwehrmann der Austritt mehrfach nahegelegt, dieser wurde jedoch zunächst nicht vollzogen und die Feuerwehr führte ihn auch nach 1935 noch als alten Kameraden weiter.

1938 unternahm er eine Reise nach Argentinien und besuchte Familienangehörige. Eine dauerhafte Emigration war nach seiner Rückkehr nicht mehr möglich, da ab dem 5.10.1938 jüdische Bürger ihre Reisepässe abgeben mussten.

Den Berichten Karl-Johann Flecks zufolge unterschrieb Lion Wohlgemuth am 14.10.1938 seine Austrittserklärung und gab seine Uniform zurück.
Die Quellen berichten uns von seiner Verzweiflung, davon, dass er als stolzer Patriot den Umschwung und die Ablehnung nicht ertragen konnte, dass ihn alle verlassen haben und ihn nichts mehr auf der Welt halte. Ausgrenzung, Entrechtung, Enteignung und Demütigung – wir können nur schwer ermessen, was er gefühlt haben muss. Am 15. Oktober 1938, einen Tag nach seinem erzwungenen Austritt aus der Feuerwehr, stürzte Lion Wohlgemuth hier an dieser Stelle aus einem der oberen Stockwerke auf die Straße. Nach dem Eintrag im Sterbebuch der Stadt Mannheim von 1938 verstarb Lion Wohlgemuth am 15.10.1938 um 11:55 Uhr im israelitischen Krankenhaus in Mannheim. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Mannheim beerdigt.

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen wird“ (Talmud). Unsere Aufgabe als Feuerwehrarchiv war es, diese Lebensgeschichte näher zu erforschen und aufzuzeichnen. Wir werden Sie im ehrenden Andenken und in der Erinnerung an Lion Wohlgemuth bewahren und weitererzählen.

 

Der Stolperstein wurde initiiert von den ehrenamtlichen Mitarbeitern des Feuerwehr-Archivs Mannheim und der Feuerwehr Mannheim. Die Verlegung fand am 6.10.2021 statt.

 

Text: Michael Müller, Freiwillige Feuerwehr Mannheim / Feuerwehr-Archiv
Fotos: Familienbesitz, Peter Rothschild  /  Foto Stolperstein: Helmut G. Roos

 

Adresse

G 3, 20
68159 Mannheim
Deutschland

Geolocation
49.489844317965, 8.4657692025162