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Der Zettelträger – ein unbekannter Beruf mit großer Öffentlichkeitswirkung

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Theaterzettel zur Oper "Die Entführung aus dem Serail" (Ausschnitt) vom 20. September 1922

Im Gegensatz zu den berühmten Mannheimer Sackträgern, die im 19. und 20. Jahrhundert im Mannheimer Hafen schwere Arbeit leisteten und denen im Jungbusch ein Denkmal gewidmet ist, sind die Mannheimer Zettelträger und ihr Beruf weitgehend unbekannt. Zahlenmäßig können es die Zettelträger mit den Sackträgern sicher nicht aufnehmen, und sie waren im Stadtbild natürlich nicht so präsent wie die schwerbeladenen kräftigen Männer. Beiden Berufsgruppen ist jedoch gemeinsam, dass sie für die Verteilung von Gütern zuständig waren: die Sackträger für die frisch eingetroffenen Konsumgüter im Hafen, die Zettelträger für das Kulturgut Theater im Stadtgebiet. Die Zettelträger hatten nämlich die Aufgabe, die Theaterzettel mit den aktuellen Informationen über die Ereignisse und Vorführungen am Mannheimer Nationaltheater in der Stadt "unter die Leute" zu bringen.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren Theaterzettel das wichtigste Medium der Kommunikation zwischen der Institution Theater und der interessierten Öffentlichkeit. Theaterzettel waren mehr als nur reine Informationsblätter. Sie dienten der Bühne zur Repräsentation und zu Werbezwecken: eine frühe Form der Öffentlichkeitsarbeit im wahrsten Sinne. Wie die hier abgebildeten Beispiele der Oper "Die Entführung aus dem Serail" zeigen, sind Theaterzettel auch immer Abbild ihrer Zeit, sowohl, was die Drucktechnik als auch die optische Gestaltung der Zettel betrifft. Die Theaterzettel wurden meist am Tag vor einer Aufführung gedruckt. Sie lagen abends im Theater als Ankündigung der nächsten Aufführung zum Mitnehmen aus und wurden am selben Tag oder am folgenden Morgen vom Zettelträger in der Stadt verteilt.

Theaterzettel zur Oper "Die Entführung aus dem Serail" vom 17.  Januar 1883, MARCHIVUM

Als sich – wie in Mannheim mit dem Nationaltheater – ab Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland stehende Bühnen etablierten, wurden zunächst städtische Boten oder Lohnkuriere mit der Aufgabe des Zettelverteilens beauftragt und dafür bezahlt. Mit der Spezialisierung der mit dem Theater zusammenhängenden Berufe im 19. Jahrhundert gehörten Zettelträger dann zum festen Personal der Institution, wobei sie dort teilweise auch in anderen Bereichen z.B. als Requisiteure oder gelegentlich sogar als Schauspieler tätig waren.

Auch am Mannheimer Nationaltheater wurden die seit dem Gründungsjahr 1777 gedruckten Theaterzettel als Plakate öffentlich ausgehängt, in Hotels und Gasthöfen zur Information für Fremde verteilt und zu den Abonnementen nach Hause gebracht. Die Zettelträger kamen also fast täglich in direkten Kontakt mit dem Publikum, kannten viele Theaterbesucher*innen persönlich und konnten somit auch Trinkgelder erhalten. Dies war zwar von der Theaterleitung nicht gerne gesehen, da die Theaterzettel als Werbung und Service grundsätzlich kostenfrei sein sollten, aber die Zettelträger versuchten trotzdem, ihren Lohn durch zusätzliche Einnahmen aufzubessern.

Theaterzettel zur Oper "Die Entführung aus dem Serail" vom 29. Mai 1901, MARCHIVUM

So bürgerte sich wie in vielen Städten auch in Mannheim die Tradition ein, dass die Zettelträger zu Neujahr Gedichte aufsagten, in denen sie ihre Aufgabe beschrieben und um weitere Trinkgelder baten. Dabei handelte es sich häufig um sehr einfache, selbstgedichtete Verse. Ein schönes Beispiel dafür ist das Gedicht des Mannheimer Zettelträgers Peter Gaab aus dem Jahr 1805, welcher, wie es der Mannheimer Theaterzettelforscher Wilhelm Herrmann treffend ausdrückt "ohne jede Zurückhaltung und Diskretion reimte":

Doch, weil man sich nur wünschet heute, //
In’s Wünschen setzet alle Freude //
so wünsche ich mir hier, //
statt Freuden, vieles baarres Geld; //
denn Geld, nur Geld regiert die Welt.

Aus dem Jahr 1805 datiert auch der hier dargestellte Theaterzettel und die Theaternachricht, die Peter Gaab ausgetragen haben dürfte. Am 26. November 1805 informiert das Nationaltheater über eine Programmänderung aufgrund des nicht rechtzeitig angereisten Gast-Schauspielers Herrn Keilholz. Statt der Oper "Die Entführung aus dem Serail" wird ersatzweise das Lustspiel "Das Camäleon" gegeben. Bei solch kurzfristigen Änderungen wurden bereits gedruckte Theaterzettel der ursprünglich geplanten Vorstellung handschriftlich durchgestrichen.

Durchgestrichener Theaterzettel zur Oper "Die Entführung aus dem Serail" vom 26. November 1805 und die Theaternachricht vom selben Tag zur Mitteilung über die Programmänderung der ersatzweisen Aufführung des Lustspiels "Das Camäleon", MARCHIVUM

Einen Bedeutungsverlust erleiden die Theaterzettel in Mannheim ab der Spielzeit 1921/22 mit Einführung der Programmhefte. Die Theaterzettel wurden jetzt nicht mehr als isolierte Objekte, sondern nur noch als mitgeheftete oder eingelegte Seiten in den Programmheften des Nationaltheaters verbreitet und sind seither nicht mehr als eigenständige Medien anzusehen. Damit endete auch die Ära der Zettelträger und der Beruf verschwand aus dem öffentlichen Bewusstsein.

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"Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger, keine andere Herrschaftsform ist so auf Mitwirkung angewiesen und kann nicht früh genug Gegenstand von Bildung und Erziehung sein. …. Zudem erleben Schülerinnen und Schüler Demokratie unmittelbar in schulischer Mitwirkung. Schule hat die Aufgabe, junge Menschen zu selbstverantwortlichem und demokratischem Handeln in der Gesellschaft zu befähigen. Dazu gehört die Vermittlung von Kenntnissen über politische, historische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen und Entwicklungen."

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