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"Im Schlafe habe ich dann auch einen Schrei gehört" - Raubmord in der Gutemannstraße, Oktober 1945

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schwarz-weiß Aufnahme einer Anmeldebescheinigung von Herrn Dimitri Z., 24. September 1945

Als Greta Diester in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 1945 nach Mitternacht durch Schreie im Nebenzimmer geweckt wurde, glaubte sie zunächst an einen Zwischenfall im Nachbarhaus. Und dies nicht ganz unbegründet: Wie eine Nachbarin später zu Protokoll gab, kam dergleichen öfter vor, sodass man sich nichts Besonderes dabei dachte. Im Bordellbezirk Gutemannstraße wurde regelmäßig die Nacht zum Tag gemacht und tätliche Auseinandersetzungen waren dabei auch keine Seltenheit.

Diesmal lag der Fall jedoch anders. Friedrich Schillé, Besitzer des Bordells in der Nummer 10, erinnerte sich später, dass zu vorgerückter Stunde eine Gruppe Amerikaner zum Haus Einlass verlangt hatte, obwohl sich darin nur zwei Frauen befanden, von denen eine, Maria Rösch, seit circa 20 Uhr einen Gast hatte. Schillé, der seine Wohnung ebenso wie die beiden Frauen im 2. Stock hatte, sah aus dem Fenster nach den Männern in der Straße und bemerkte, dass aus dem Fenster der Maria Rösch ebenfalls ein Mann herausschaute. In gebrochenerem Deutsch bedeutete dieser den Amerikanern, wieder zu gehen. Schillé schätzte ihn auf ein Alter von 30 Jahren.

Gutemannstraße Nr. 10, 1948, MARCHIVUM.

Da die Männer nicht nachließen, öffnete ihnen Schillé und ließ einen von ihnen, den Soldaten Jack Schwartz, zu Greta Diester aufs Zimmer gehen. Dann legten er und seine Frau sich schlafen. Gegen Mitternacht habe er dann die Schreie gehört, gefolgt von dumpfen Schlägen. Schillé klopfte daraufhin an das Zimmer der Rösch, bat vergebens: "Maria machen sie [sic] doch auf". Schließlich alarmierte er Jack und Greta, die im Nebenzimmer wach geworden waren. Jack holte die Polizei und gemeinsam wurde die Tür geöffnet.

Maria Rösch lag direkt hinter der Tür auf dem Rücken, tot. Sie war barfuß, nur mit einer Hemdhose und ihren Unterröcken bekleidet, in den Mund hatte man ihr die Ecke eines Bettvorlegers gestopft. Oberhalb des rechten Auges hatte sie ein hühnereigroßes Loch im Schädel, "aus welchem Gehirnmasse hervortrat". Die Verletzung war mutmaßlich durch Schläge mit dem daneben liegenden Schraubenschlüssel herbeigeführt worden. Blutspuren an ihrem Bettzeug bezeugten zudem, dass sich dort jemand die Hände abgewischt hatte.

Schraubenschlüssel, LABW GLAK 309 Nr. 5984.

Insgesamt, so hielt der bearbeitende Kriminalbeamte in seinem Bericht fest, war das Zimmer in großer Unordnung, was, wie er fand, "bei Dirnen ja öfter zu beobachten ist". Dennoch konnte schnell festgestellt werden, dass mehrere Schmuckstücke fehlten sowie eine Mappe, in der Maria Rösch gewöhnlich ihre Barschaft aufbewahrte. Der Täter hatte sich, nachdem ihm durch rasches Verschließen der Türen alle anderen Fluchtwege abgeschnitten waren, wohl durch das Fenster ins Freie begeben. An der Außenfassade befand sich unterhalb ein Sockel, der ihm den Fall auf das Straßenniveau abgekürzt hatte.

Er war jedoch nicht spurlos verschwunden. Auf dem Tisch im Zimmer lag eine grüne Männerunterhose, die "amerikanischen Ursprungs" zu sein schien. Zudem wurde auf dem Trottoir ein Messer mit Holzgriff gefunden, vermutlich ein Eigenfabrikat. Dies nahm der Kriminalbeamte als Anlass für die Vermutung, "dass es einem Polen gehören dürfte", ohne jedoch die Gründe dafür genauer auszuführen. Einfluss auf seine Annahme hatte vermutlich die Aussage des Bordellbesitzers Friedrich Schillé genommen, es habe sich bei dem Gast um einen Ausländer gehandelt ("diese kommen auch täglich in die Straße und sind gegen uns sehr herausfordernt [sic] und frech").

Schillé äußerte auch seine Verwunderung darüber, dass ein so junger Mann zu einer Frau in Marias Röschs Alter (48) komme, "die keinen Zahn mehr im Munde hat". Auch diese Aussage prägte einen bestimmten Eindruck, nämlich den, dass es sich um eine geplante Tat gehandelt haben musste. Indes wurde die Leiche obduziert, der Schädelbasisbruch infolge von Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand als Todesursache bestätigt. Kleidungsstücke des Opfers, die mutmaßliche Tatwaffe und die Hinterlassenschaften des flüchtigen Bordellgastes schickte man in die Gerichtsmedizin nach Heidelberg zur Untersuchung.

Die Staatsanwaltschaft setzte auf die Mitarbeit der Bevölkerung und ließ 100 Exemplare eines Fahndungsplakats drucken, auf dem dezidiert von einem "Ausländer" die Rede war. In der Presse ging man noch einen Schritt weiter und sprach von einem "Polen", der die Tat mutmaßlich begangen habe. Nicht mehr in die öffentlichen Verlautbarung schaffte es die Personenbeschreibung, die am Dienstag, 23. Oktober, Berta B., eine Kollegin der Maria Rösch, von jenem letzten Gast abgeben konnte:

Fahndungsplakat der Staatsanwaltschaft Mannheim (das Alter des Opfers ist falsch angegeben), 22. Oktober 1945, LABW GLAK 309 Nr. 5982, o.S.

"Es handelte sich um einen großen Mann in dunklem Anzug mit hellem Überzieher. Einen Hut hatte er nicht auf dem Kopfe. Die Haare sind dunkelblond. Der Mann sprach gebrochen deutsch [sic] und ich habe ihn für einen Polen gehalten." Dieser Aussage kam insofern Bedeutung zu, als Berta B. im Gegensatz zu Friedrich Schillé den Mann im Lichtschein, der aus der Hausnummer 10 fiel, genau hatte sehen können, als dieser im Begriff war, mit Maria Rösch auf ihr Zimmer zu gehen. Ihre Beschreibung passte dann auch haargenau auf einen jungen Mann, der tags zuvor (Montag, 22. Oktober) mit Blutspuren an seiner Kleidung verhaftet worden war.

Dimitri Z. war gerade aus Frankfurt am Main zurückgekehrt, als man ihn festnahm. Das Blut konnte er nicht erklären und wollte es auch nicht bemerkt haben, er bestand jedoch darauf, die Kleidung gerade erst aus Frankfurt mitgebracht zu haben, wo er sie bei einem Bekannten aufbewahrt habe. Dimitri Z. war eine sog. Displaced Person und gab an, aus Stanislaw in der polnischen Ukraine zu stammen. Er sei 21 Jahre alt und seit 1941 in Deutschland. Er habe bei der Reichsbahn gearbeitet, den Betrieb sabotiert. Dafür habe man ihn ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht, später sei er mit einem Arbeitskommando nach Köln geschickt worden.

Anmeldebescheinigung Dimitr Z., 24. September 1945, LABW GLAK 309, Nr. 5982, S. 37.

Bei einer Gegenüberstellung wurde er durch Berta B. belastet. Dimitri Z. wehrte sich gegen die Anschuldigungen, verstrickte sich jedoch zusehends in Widersprüche. So behauptete er, sich zwischen dem 18. und dem 22. in Frankfurt aufgehalten zu haben, und benannte hierfür mehrere Zeugen. Deren Erinnerung ging in der Tendenz jedoch dahin, dass Dimitri Z. eher am 20. den Zug zurück nach Mannheim genommen habe. Nur dass er am 21. gegen sieben Uhr in der Frühe mit mehreren Bekannten in der Eschersheimer Landstraße Wein gekauft hatte, konnte bestätigt werden.

Dieses Alibi erwies sich jedoch als wertlos: Mehrere Zeugen in Frankfurt und Mannheim wussten von einem Auto, mit dem Dimitri Z. und zwei andere Männer, die mit ihm in Buchenwald gewesen waren, am Montag, 22. von Frankfurt nach Mannheim gefahren waren. Der Zugriff auf einen Kraftwagen würde es Dimitri Z. ermöglicht haben, am Samstag, 20. zwischen Mitternacht und ein Uhr in Mannheim den Mord zu begehen und am Sonntag, 21. morgens um sieben in Frankfurt Wein zu kaufen. Hierzu bemerkte der Kriminalbeamte in seinem Bericht, dass Z. in diesem Fall nicht geschlafen haben würde und auch nicht anzunehmen sei, dass jemand direkt nach dem Aufstehen das Bedürfnis verspüren dürfte, als erstes Wein zu trinken.

Es gab jedoch Indizien, die eine weitaus konkretere Belastung des Tatverdächtigen darstellten: So hatte Dimitri Z. bereits gestanden, in den Wochen vor dem Mord gemeinschaftlich mit einem Amerikaner einen Raub verübt und von ihm auch eine Uniform erhalten zu haben. Außerdem stellte sich heraus, dass die Angaben zu seiner Person in Teilen unrichtig waren. Er räumte nun ein, in Wahrheit Russe zu sein und aus Charkiw zu stammen. Als Pole habe er sich ausgegeben, um der drohenden Repatriierung zu entgehen und in Deutschland bleiben zu können. Und zu allem Übrigen ergaben die weiteren Ermittlungen, dass das besagte Auto in Frankfurt gestohlen worden war. Als Diebe identifizierte der Eigentümer Dimitri Z. und weitere Männer.

Skizze von Z.'s Mantel der Gerichtsmedizin Heidelberg (mit Markierungen für die Position der Blutspuren), Oktober 1945, LABW GLAK 309 Nr. 5982, S. 32.

Bei allen Indizien fehlte jedoch der definitive Beweis, und Dimitri Z. legte auch kein Geständnis ab. Er saß noch bis Jahresbeginn 1946 im Landesgefängnis ein, zu welchem Zeitpunkt die USamerikanische Militärverwaltung offenbar entschieden hatte, für ihn nicht zuständig zu sein. Seine russische Staatsangehörigkeit war vielleicht inzwischen bestätigt worden - jedenfalls wurde er am 11. Januar aus der Haft entlassen und durch einen russischen Offizier abgeholt. Sein weiteres Schicksal ist ebenso ungeklärt wie die Frage nach seiner Täterschaft.

Für die Gutemannstraße sollte der Mord an Maria Rösch noch weitreichende Konsequenzen haben: Am 15. Dezember 1945 gab die Militärregierung in Mannheim bekannt, dass sämtliche Bordelle zu schließen seien und sich alle Frauen des Gewerbes auf dem Arbeitsamt zu melden hätten, wo man ihnen eine andere Beschäftigung zuweisen würde. Sowohl das Ausüben als auch das Ermöglichen von Prostitution wurde unter Strafe gestellt. Auch wenn diese Maßnahmen realiter weitgehend wirkungslos gewesen sein mögen - offiziell durfte Prostitution in der Gutemannstraße erst gegen Ende des Jahrzehnts wieder stattfinden.

Weitere Informationen zum Fall Maria Rösch entnehmen Sie der Dissertation von Mirjam Schnorr (Universität Heidelberg): "Prostituierte und Zuhälter im 'Dritten Reich'. Zwischen Alltag, Repression und 'Ausmerze'". Die Publikation erscheint voraussichtlich 2024.

alles zum Thema: Gutemannstraße, Stadtgeschichte

Wie der Neckar die Landschaft prägte

Mannheim scheint topfeben zu sein. Doch wer häufig mit dem Rad unterwegs ist, wird schnell merken, dass es in einigen Stadtteilen und Vororten beträchtliche Höhenunterschiede und Steigungen gibt, wie beispielsweise zur Hochuferstraße im Herzogenried, zum Aubuckel oder zum Paulusberg in Feudenheim. Hier handelt es sich nicht um trassierte Straßen, wie z. B. die Röntgenstraße, wo es am Universitätsklinikum rechts und links metertief abwärts geht. Es sind natürliche Erhebungen wie ehemalige Hochgestade oder Sanddünen.

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"...ein Arzt wurde nicht hinzugezogen..." - Leben und Sterben der Mannheimer Zwangsarbeiter*innen 1939-1945

Auch in Mannheim gab es sie, die Männer und Frauen, die während des Krieges für das deutsche Reich schuften mussten. Aus der Heimat verschleppt oder in Kriegsgefangenschaft geraten, teils auch mit falschen Versprechungen angeworben, leisteten sie unfreiwillig einen Beitrag in den Fabriken und Betrieben des NS-Staates. Ihre Zahl geht in die Millionen. In den Städten, aber auch auf dem Lande waren sie fast überall im Einsatz. Selbst heute bewegen wir uns noch öfter auf ihren Spuren, als uns bewusst ist.

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