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Arthur Baer

geboren am
Verfolgung

Als Jude verfolgt

Im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert

Überlebt

Kachelbild
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Text

Redebeitrag von Markus Enzenauer (MARCHIVUM) zur Stolpersteinverlegung für Arthur Baer am 12.10.2022.

„Schutzhaft“ 1938 in Dachau – Deportiert 1945 Theresienstadt – Befreit: Das sind die Eckdaten des Verfolgtenschicksals von Arthur Baer, wie sie in die Messingplatte des heute verlegten Stolpersteins geschlagen sind. Lassen Sie mich dieses Schicksal etwas eingehender beleuchten. Einiges, von dem zu berichten ist, mag Ihnen womöglich aus dem Lochbühler-Buch von 1998 bekannt vorkommen, viele neue Details aber konnten durch die Konsultation der Wiedergutmachungsakten im Generallandesarchiv ergänzt werden.

Arthur Baer, dem wir mit dieser Veranstaltung gedenken, kann als Musterbeispiel für einen assimilierten deutschen Juden bezeichnet werden. Er entstammte einer der ältesten in Ilvesheim nachgewiesenen Judenfamilien, seine Vorfahren lassen sich über mindestens fünf Generationen – bis in das frühe 18. Jahrhundert zurück – nachweisen und gehören vermutlich zu den ersten Juden überhaupt, die vom damaligen Ilvesheimer Ortsherren Lothar Friedrich von Hundheim ihr Niederlassungsrecht erhielten.

Arthur, am 21. September 1882 geboren, war das fünfte von insgesamt sieben Kindern des Ilvesheimer Viehhändlers und Maklers Bernhard Baer und dessen Ehefrau Emma, einer geborenen Kaufmann. In den frühen 1890er Jahren zog die Familie von Ilvesheim herüber nach Seckenheim und noch als Jugendlicher – im Jahre 1898 – war Arthur Mitbegründer der Seckenheimer Fußballgesellschaft geworden. Überhaupt ist bemerkenswert, wie sehr er sich später im hiesigen Vereinsleben einbringen sollte, als Mitglied im Rennverein, im Männergesangverein 1861 und auch in der Radfahrgesellschaft 1901. Auch dies sind Belege für sein ausgesprochenes Heimatgefühl und sein Streben, sich gesellschaftlich einzubringen.

Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Baer als Sänger in verschiedenen Städten sein Auskommen, gab dieses weniger stete Künstlerleben aber auf, nachdem er die aus Seckenheim stammende Emma Seitz – die keine Jüdin, sondern evangelisch getauft war – kennengelernt und diese im Juni 1913 geheiratet hatte. Aus der Ehe gingen zwei in Seckenheim geborene Kinder, Charlotte und Hans, hervor. Die Heirat mit Emma Seitz ist insofern bemerkenswert, da auch sein älterer Bruder Julius im Jahre 1906 eine Protestantin geheiratet hatte und überhaupt solch gemischtkonfessionellen Ehen noch immer (und vor allem in kleineren Gemeinden) recht selten vorkamen. Es handelte sich dabei um eine sehr weitreichende Entscheidung, bedeutete doch die Heirat außerhalb der Glaubensgemeinschaft, nichts Geringeres als das Verlassen des jüdischen Pfades. Arthur Baer war diesbezüglich konsequent und gab seinen israelitischen Glauben auch formal auf.

Von 1914 bis 1918 war Baer Soldat. Als Auszeichnungen erhielt er das Eiserne Kreuz II. Klasse, das badische Verdienst- sowie das Frontkämpferabzeichen. Diese Meriten bedeuteten ihm viel. Im Übrigen war das Empfinden in der Familie Baer durchaus national, ja rechts-konservativ geprägt und das Einstehen für das Vaterland als selbstverständliche Pflicht angesehen: Schon sein Vater Bernhard Baer war als Soldat im 1870/71er Krieg (sein Name findet sich auf einer der Gedenktafeln des Ilvesheimer Kriegerdenkmals), gehörte später mit größtem Eifer zum Ilvesheimer Veteranenverein und er wie auch sein Sohn waren zeitlebens stolz darauf, den Waffenrock getragen zu haben.

Gedankt wurde den Juden ihr durchaus nationales Empfinden bekanntlich nicht und ihre Heimatliebe, die sie weiß Gott nicht unter Beweis stellen mussten, schützte sie am Ende nicht vor den Anfeindungen und Nachstellungen der Antisemiten. Dieses Ausgeschlossen-Werden muss für assimilierte Juden wie Baer, der mit religiösen Dingen nichts im Sinne und den innerjüdischen Kontakt auf Familienmitglieder beschränkt hatte, doppelt bitter empfunden worden sein – und wohin Entrechtung und Diskriminierung führen konnten, sollte ihm bald durch einen tragischen familiären Doppelschlag bewusst werden: Als sich seine Brüder Fritz und Julius im Jahre 1936 hier in Seckenheim das Leben nahmen, war es in beiden Fällen nicht nur die fehlende wirtschaftliche Perspektive, der Blick auf die jetzt in Trümmern liegende Existenz, sondern das Gefühl eines Ausgeschlossen- und Isoliert-Seins, das die Männer in die Verzweiflung trieb.

Vor dieser Zeit des Drangsals und Unglücks aber hatte Arthur Baer beruflichen Erfolg und seine durchlaufenen Stationen gingen nicht nur stets mit einem Aufstieg einher, sondern geben Zeugnis von kaufmännischer Gewitztheit. Nach seiner Heirat hatte Arthur Baer zunächst den Betrieb der Kantine in der OEG-Station Seckenheim übernommen, später wurde er Geschäftsführer der Landwirtschaftlichen Ein- und Verkaufsgenossenschaft Seckenheim, ehe er als Vertreter in die Tabakbranche wechselte.

Bereits 1923 kam er durch diese Tätigkeit in Verbindung mit der Firma Martin Brinkmann KG in Bremen, die einen größeren Standort in Speyer unterhielt. Im selben Jahr begann er dort als Einkäufer für Inland-Rohtabake. Baer machte in dem Unternehmen, das in jener Zeit zu einem der führenden Rauchtabakunternehmen im Deutschen Reich avancierte, rasch Karriere und übernahm den Fermentationsbetrieb in Speyer. Neben seinem guten Betriebsleiter-Verdienst erhielt Baer eine kostenfreie, sehr großzügig dimensionierte Wohnung auf dem Werksgelände.

Sowohl durch die NS-Betriebszellenorganisation, als auch von außen wurde nach 1933 Druck ausgeübt, Baer zu entlassen, wovon jedoch zunächst seitens des Geschäftsleitung wegen dessen kaufmännischer Fähigkeiten Abstand genommen wurde. Die sich verschärfende politische Lage, vor allem die immer striktere Judengesetzgebung aber ließen diesen Schutz bröckeln und führten schließlich doch zur Entlassung, wobei Baer von der Geschäftsführung nahegelegt wurde, seine Tätigkeit bis zum 30. Juni 1938 offiziell zu beenden. Erleichtert werden sollte ihm dieser Schritt durch eine Abfindungszahlung. Im gegenseitigen Einvernehmen wurde Baer schließlich – so hieß es in den Wiedergutmachungsunterlagen – mit einer Zahlung über 9.000 RM abgefunden. In Erwartung weiterer diskriminierender Maßnahmen ließ Baer den Betrag an seine arische Ehefrau auszahlen. Offensichtlich war damit die Hoffnung verbunden, das Geld vor einem enteignenden Zugriff durch die Behörden zu schützen.

Nach seiner Entlassung zog er wieder nach Seckenheim, hierher in die Hauptstraße 183. Er war zunächst arbeitslos, arbeitete aber dann – freilich ohne auf der Lohnabrechnung zu erscheinen – bei der Seckenheimer Firma Lochbühler als kaufmännischer Angestellter. Der Firmeneigner Karl Lochbühler war der Neffe von Baers Ehefrau und verschaffte ihm die Möglichkeit, in einem Zimmer, wo er mit Kunden nicht in Berührung kam, die Geschäftsbücher zu führen. Allerdings gelangte dieses Arrangement den falschen Leuten zu Ohren und es folgte die Denunziation bei der Ortsgruppe der NSDAP. Für Lochbühler war die Situation durchaus gefährlich, denn in solchen Fällen konnten Geschäfte geschlossen werden. Dennoch wurde Baer von seinem Neffen nicht im Stich gelassen; fortan machte er die Bücher eben bei sich zu Hause.

Am 10. November 1938 wurde Arthur Baer von vier SA-Leuten verhaftet und zusammen mit anderen Seckenheimer Juden, darunter dem Fotografen Siegmund Lewin, nach Dachau gebracht. Zwei Tage nach der Verhaftung Baers richtete Lochbühler mit der Absicht, seinen Onkel wieder aus dem KZ herauszubekommen, ein Schreiben an den Mannheimer Polizeipräsidenten und ein weiteres an die Seckenheimer SA. Offenbar glaubte Lochbühler sich als in Seckenheim bekannter und angesehener Geschäftsmann, der die Partei schon durch Förderbeträge und Spenden unterstützt hatte, derlei erlauben zu können. Die Fürsprache aber wurde vom Seckenheimer SA-Sturmführer Hermann Weissling scharf zurückgewiesen und Konsequenzen angedroht. Dass die Freilassung Baers am 2. Dezember 1938 auf diese Intervention hin erfolgte, wie Lochbühler glaubte, bleibt indessen fraglich.

Nach dem Pogrom wurde Baer, wie alle Juden, deren Vermögen 5.000 RM überstieg, gezwungen, zur „Sühne“ eine 20-prozentige „Judenvermögensabgabe“ zu entrichten. Hinzu kamen weitere Geldverluste, die nur entstanden waren, um die aus der diskriminierenden Gesetzgebung heraus überhaupt erst angelaufenen Schulden bedienen zu können. So musste er zur Zahlung der Judenvermögensabgabe und der Abwendung einer bereits in die Wege geleiteten Zwangsvollstreckung zwei Ackergrundstücke veräußern, für die er etwa ein Drittel weniger als den üblichen Preis erhielt. Käufer waren die Wasserwerksgesellschaft Mannheim und die Steinzeugwarenfabrik in Friedrichsfeld. Seine seit 1928 laufende Lebensversicherung wurde ihm wegen seiner jüdischen Abstammung vorzeitig ausgezahlt, wobei er nach zehnjähriger Beitragsentrichtung lediglich zwei Drittel des eingezahlten Geldes zurückerhielt.

Ob Arthur Baer nach seiner Rückkehr aus Dachau wieder bei Lochbühler arbeitete oder von diesem in anderer Weise Unterstützung erfuhr, ist nicht geklärt aber wahrscheinlich. Allerdings musste die Firma hierbei größte Vorsicht walten lassen. Aus den Wiedergutmachungsunterlagen geht nur hervor, dass er seit Februar 1941 bei der Glaserei Wilhelm Lechner in Mannheim als Hilfsarbeiter anfing und dort bis zum Oktober 1941 blieb. Danach kam er zur Firma Otto Wittig in Schwetzingen, wo er eine Anstellung als Tabakarbeiter erhielt. Durch die Mischehe mit seiner arischen Frau geschützt, blieb er von einer Deportation zunächst verschont. Erst wenige Monate vor dem Zusammenbruch des Hitlerreiches, am 14. Februar 1945, wurde er in Seckenheim – wie er selbst vermutete, nach einer Denunziation bei der Gestapo – verhaftet und nach Theresienstadt verschleppt. Dort blieb er noch gut vier Wochen über das Kriegsende hinaus interniert, ehe er zurück in die Heimat durfte. Seit dem 27. Juni 1945 war er wieder in Seckenheim.

Wenige Monate darauf wurde er erneut bei der Fa. Wittig angestellt, diesmal immerhin in der Stellung als Tabakmeister. Dort blieb er indes nur bis Ende März 1946, ehe er sich als Rohtabakhändler selbstständig machte. Mittlerweile im Alter von 58 Jahren angelangt, hoffte er noch einmal beruflich durchstarten zu können. Angeblich waren seine früheren Kontakte zu Brinkmann für den Aufbau seines Geschäftes förderlich.

Den Antrag auf Wiedergutmachung stellte Baer Ende Januar 1948. Er wartete sehnlich auf die Bearbeitung seines Falles, da er für seine zweite Existenzgründung Schulden gemacht hatte und dringend auf das ihm zustehende Geld angewiesen war. Aufgrund seiner Vorverfolgungs-Beschäftigung als leitender Angestellter war von vornherein absehbar, dass neben den oben bereits genannten Schädigungen der Verdienstausfall eine besonders große Rolle spielen würde. Der durch den erzwungenen Wechsel auf eine wesentlich geringer bezahlte Beschäftigung entstandene Schaden entsprach nach der Währungsreform einem Geldwert von über 5.000 DM. Für die Zeit seiner Inhaftierung in Dachau und Theresienstadt erhielt er 600 DM.

Auch das Beispiel Baers zeigt sehr anschaulich, wie hartnäckig die Antragsteller auf ihre Forderungen pochen mussten und wie viel Geduld dabei bisweilen vonnöten war, denn die Mühlen der Ämter mahlten langsam. Ein ums andere Mal wurden Nachweise und Leumundszeugnisse eingefordert, um den Fall weiterbearbeiten zu können. In einem Schreiben an das Landesamt für Wiedergutmachung, mit dem er dringend um die Erledigung seines Antrages auf Entschädigung seines Verdienstausfalles bat, brachte es Baer (dem man eine Bereitschaft zur Mitwirkung und zur Aufklärung der erfragten Sachverhalte wahrlich nicht nachsagen konnte) sarkastisch auf den Punkt: „Bitte geben Sie mir sofort Nachricht, was ich Ihnen noch an Unterlagen beschaffen soll, damit auch diese Angelegenheit bald abgeschlossen werden kann, und ich hoffentlich noch bevor ich sterbe das mir zustehende Geld ausbezahlt erhalte.“

Erst im Juni 1953 bekam er vom Land Baden-Württemberg wegen Schädigung seines beruflichen Fortkommens insgesamt 5.900 DM zuerkannt. Die Rückerstattung der Judenvermögensabgabe hingegen hat Arthur Baer, der am 25. Dezember 1954 in Seckenheim verstarb, nicht mehr erlebt. Diese bekam die Witwe erst im November 1956 zugesprochen und mit der Entschädigung für die vorzeitig erzwungene Auflösung der Lebensversicherung fand im Mai 1957 das langwierige Entschädigungsverfahren Baer in juristischer Hinsicht seinen Abschluss.

Anders freilich verhielt es sich mit dem historischen Erinnern. „Aufgearbeitet“ oder „bewältigt“ waren die Schicksale der von den Nazis Verfolgten und Ermordeten damit noch lange nicht – das galt für Baer wie alle anderen seiner Schicksalsgenossen, war in Seckenheim nicht anders als sonst wo. Der Prozess um die historische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist seit seinem zähen In-Gang-Kommen andauernd und erstreckt sich bis in unsere Gegenwart hinein. Möge der heute verlegte Stolperstein seinen Beitrag dazu leisten. Nötig wäre dies allemal.


Der Stolperstein für Arthur Baer wurde vom Förderverein historisches Seckenheim initiiert und am 12. Oktober 2022 verlegt. Die Firma Lochbühler hat die Patenschaft übernommen.

Fotos 1-3: Gemeindearchiv Ilvesheim, Bildsammlung.
Foto 4: Wikipedia

Weitere Infos: https://www.historisches-seckenheim.de/index.php/stadtpunkte-und-stolpe…

Adresse

Seckenheimer Hauptstr. 183
68239 Mannheim
Deutschland

Geolocation
49.469936768574, 8.5577095