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Heinrich Chaim Grosz

geboren am
Verfolgung

Jüdischer Kaufmann
Deportiert
"Verschollen"

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Familie Flattau / Grosz

In den Häusern rund um den Clignetplatz in der Neckarstadt-Ost befanden sich einst mehrere Lebensmittelgeschäfte, in denen die Bewohner*innen des Stadtteils ihre Einkäufe für den täglichen Bedarf erledigten. Dazu zählte von 1928 bis 1938 auch das gutgehende Milch- und Molkereiwarengeschäft der jüdischen Familie Flattau.

Im Jahr 1907 war der damals 20-jährige Metallgießer Fischel Flattau (geboren 1887 im seinerzeit russischen Petrikau, heute Piotrków Trybunalski bei Łódź) aus seiner Geburtsstadt nach Mannheim  gekommen, wohin sein Bruder Abraham und dessen Frau Jenta bereits fünf Jahre zuvor emigriert waren. Fischel, der seinen Namen eindeutschte und sich fortan Felix nannte, arbeitete zunächst als Fabrikarbeiter und lernte in Deutschland Jenny „Jettchen“ Nathan (geb. 1888) aus Lohra bei Marburg kennen. 1912 eröffnete das Paar ein Milchgeschäft in der Eichendorffstraße, in dem es zeitweise auch andere Lebensmittel sowie „Kolonialwaren“ verkaufte. 1913 heirateten Felix und Jenny, 1914 und 1918 kamen die beiden Töchter Martha Mina und Mathilde Edith zur Welt. Im Jahr 1919 wurde die Familie eingebürgert. Martha und Edith besuchten die Wohlgelegenschule, Edith sodann von 1928 bis 1932 die Höhere Privatschule „Institut Sigmund“. Die beiden Mädchen halfen schon früh im elterlichen Laden mit.

Ende der 1920er Jahre erwarb das Ehepaar Flattau das Haus Untere Clignetstraße 12, wo die Familie im Erdgeschoss eine 4-Zimmer-Wohnung bewohnte und fortan die Milchhandlung betrieb. Dass das Geschäft florierte und es die Familie im Laufe der Jahre zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht hat, belegt eine Aussage von Jenny Flattau in einem späteren Widergutmachungs-Verfahren im Jahr 1955: „Wir hatten eine Konzession der Milchzentrale Mannheim zur Belieferung von Warenhäusern, Konditoreien und sonstigen Großabnehmern für Molkereiprodukte, sowie umfangreichen Detailverkauf mit viel fester Beamtenkundschaft. Das Geschäft war hauptsächlich ein Familienunternehmen und wurde betrieben von mir, meinem Mann, unseren beiden Töchtern und einem Schwiegersohn, sowie Angestellten.“

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die Familie zunehmenden Repressalien ausgesetzt. Das Regime machte den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg der Flattaus jäh zunichte. Felix Flattau, der noch im Januar 1933, kurz vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, der SPD beigetreten war, wurde als sogenannter „Ostjude“ im Januar 1934 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen; auch Jenny und den Töchtern wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, obwohl die Ehefrau vor der Heirat die preußische Staatsangehörigkeit besessen hatte. Vergeblich bemühte sie sich um die Widereinbürgerung.

Felix Flattau starb am 11. Oktober 1934 im Alter von nur 47 Jahren im Israelitischen Krankenhaus in Mannheim. Jenny Flattau führte fortan das Milchgeschäft zusammen mit den Töchtern alleine fort. Martha heiratete 1936 den aus Ungarn stammenden Kaufmann Heinrich Chaim Grosz, der ebenfalls im Geschäft mitarbeitete und in der Wohnung der Familie Flattau lebte. Im Mai 1937 kam der gemeinsame Sohn zur Welt, dem das junge Ehepaar den Namen des verstorbenen Großvaters, Felix, gab.

Im Juni 1938 musste Jenny Flattau das Haus in der Clignetstraße 12 unter Wert verkaufen und den Laden aufgeben. Nach der „Arisierung“ lebte sie mit Edith in K 3, 21. Nach den Novemberpogromen bereiteten sich Mutter und Tochter auf die Flucht aus Deutschland vor. Im März 1939 wanderten Jenny „Jettchen“ und Edith über München und Triest nach Palästina aus und ließen sich in der landwirtschaftlichen Siedlung Schawe Zion bei Naharia nieder. Jenny Flattau starb dort am 15. April 1970, Edith (verheiratete Hoffmann-Lewy) in den 1990er Jahren.

Martha, Heinrich und Felix Grosz lebten nach der Vertreibung aus der Clignetstraße für einige Monate in der Schimperstraße 6, ab Februar 1939 in der Otto-Beck-Straße 6. Im Mai 1939 zogen sie in das „Landwerk Steckelsdorf“ im brandenburgischen Rathenow, mit dem Ziel, von dort ebenfalls nach Palästina auszuwandern. Dies gelang jedoch nicht. Im Dezember 1939 konnte der 2-jährige Sohn Felix mit einem Kindertransport nach Schweden gerettet werden, wo eine Pflegemutter ihn adoptierte und aufzog. Er überlebte in Stockholm und blieb Zeit seines Lebens in Schweden.
Seine Eltern Heinrich und Martha versuchten über Ungarn aus Europa zu fliehen, wurden aber zu einem unbekannten Zeitpunkt von den Deutschen aufgegriffen und „nach Osten“ deportiert. Vermutlich wurden sie in Auschwitz-Birkenau ermordet.
 

Die Stolpersteine zum Gedenken an Felix, Jenny und Edith Flattau sowie Martha, Heinrich und Felix Grosz wurden am 11. Oktober 2022 auf Initiative der Hausgemeinschaft Clignetstraße 12 im Beisein von Nachfahren der Familie Grosz aus Schweden verlegt.

Text: Dr. Marco Brenneisen (MARCHIVUM), Februar 2024
Fotos: MARCHIVUM / Volker Keller
 

Literatur:
Volker Keller: Die Ostjuden in Mannheim. Migration in die Quadratestadt, Schriftenreihe MARCHIVUM Bd. 6, Mannheim 2021. Darin: Familie Flattau, S. 116-119.

Adresse

Untere Clignetstr. 12
68167 Mannheim
Deutschland

Geolocation
49.496400668591, 8.4783089