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"...ein Arzt wurde nicht hinzugezogen..." - Leben und Sterben der Mannheimer Zwangsarbeiter*innen 1939-1945

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schwarz-weiß Fotografie von Zwangsarbeiters 1943 beim Bau des Stahlwerkbunkers

Auch in Mannheim gab es sie, die Männer und Frauen, die während des Krieges für das deutsche Reich schuften mussten. Aus der Heimat verschleppt oder in Kriegsgefangenschaft geraten, teils auch mit falschen Versprechungen angeworben, leisteten sie unfreiwillig einen Beitrag in den Fabriken und Betrieben des NS-Staates. Ihre Zahl geht in die Millionen. In den Städten, aber auch auf dem Lande waren sie fast überall im Einsatz. Selbst heute bewegen wir uns noch öfter auf ihren Spuren, als uns bewusst ist.

Die aus verschiedenen Ländern Ost- und Westeuropas stammenden Menschen sollten das deutsche Arbeitskräftereservoir auffüllen. Behandelt wurden sie aber ganz und gar nicht wie die deutschen Arbeiter, mit denen sie häufig Seite an Seite arbeiteten. Mangelernährung, Fahrlässigkeit und Schikane durch die Verantwortlichen sorgten allein in Mannheim für über tausend Todesfälle unter den oft noch ganz jungen ArbeiterInnen. Manche waren noch nicht einmal volljährig, wie dieser Junge aus dem französischen St. Dié.

Marc Paquet, 1944 Zwangsarbeiter bei Bopp & Reuther

Besonders bestürzend: das Schicksal der schwangeren Arbeiterinnen. Vor allem die Mädchen und Frauen aus Osteuropa hatten unter rassistischen Diskriminierungen zu leiden. Ihre Babys, die den Nationalsozialisten lediglich als Störfaktor im Arbeitsablauf galten, wurden vielfach zu Todesopfern der Rassenpolitik. Lediglich wenn sie als "gutrassig" beurteilt wurden, hatten diese Kinder eine Chance, im Zuge der sogenannten "Eindeutschung" zu überleben. Aber auch die Kinder westeuropäischer Arbeitnehmerinnen starben scharenweise, wie Anfang 1945 der kleine Raymond Marcel Bos, der erst ein halbes Jahr zuvor in Mannheim geboren worden war. Für die Behandlung seiner Lungenentzündung wurde kein Arzt hinzugezogen.

Sterberegister Raymond Marcel Bos (Ausschnitt) 

Trotz dieser teils menschenunwürdigen Behandlung, die zu Folgeschäden an Körper und Seele der Überlebenden führte, wurden die Zwangsarbeite*innen nach dem Krieg zunächst nicht entschädigt. Sie galten nicht als rassisch oder politisch Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes von 1956. Erst in den Achtziger Jahren kam der Aufarbeitungs- und Wiedergutmachungsprozess langsam ins Rollen. Die Bemühungen um Entschädigung müssen jedoch, und das gilt für Initiativen durch Staat und Wirtschaft gleichermaßen, als halbherzig bezeichnet werden. Impulse zur Errichtung von analogen und digitalen Mahnmalen gibt es mehrheitlich erst seit dem neuen Jahrtausend.

Ein solches digitales Mahnmal ist in Form einer Verfolgtendatenbank auch für das NS-Dokumentationszentrum des MARCHIVUM geplant, das in der zweiten Jahreshälfte 2022 eröffnen soll. Dadurch soll es möglich werden, nach individuellen Verfolgten des NS-Regimes in Mannheim zu suchen und ihre Geschichte nachzuvollziehen. Die hier eingesetzten Zwangsarbeiter sind ebenso mit inbegriffen wie die jüdischen Mannheimer Bürger und andere, die unter dem NS-Terror zu leiden hatten. Für die Verfolgtengruppe der Zwangsarbeiter*innen werden in einem ersten Schritt die zivilen Todesopfer erfasst, weitere Opfer der ZwangsarbeiterInnen werden folgen.

Zwangsarbeiter 1943 beim Bau des Stahlwerkbunkers

Mehr zu diesem Thema:
Am Mittwoch, 8. Dezember 2021 um 18 Uhr hält die Autorin den Vortrag ""…ein Arzt wurde nicht hinzugezogen…" - Leben und Sterben der Mannheimer ZwangsarbeiterInnen 1939-1945", der auf www.marchivum.de (live-)gestreamt wird.

alles zum Thema: NS-Zeit, Zwangsarbeiter*innen

"Im Schlafe habe ich dann auch einen Schrei gehört" - Raubmord in der Gutemannstraße, Oktober 1945

Als Greta Diester in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 1945 nach Mitternacht durch Schreie im Nebenzimmer geweckt wurde, glaubte sie zunächst an einen Zwischenfall im Nachbarhaus. Und dies nicht ganz unbegründet: Wie eine Nachbarin später zu Protokoll gab, kam dergleichen öfter vor, sodass man sich nichts Besonderes dabei dachte. Im Bordellbezirk Gutemannstraße wurde regelmäßig die Nacht zum Tag gemacht und tätliche Auseinandersetzungen waren dabei auch keine Seltenheit.

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