Breadcrumb-Navigation

Ein jüdischer Jurist aus Mannheim: Hans Ludwig Jacobsohn - Hans Oettinger – Henry Ormond

Kategorien
Die Unterprima U I b des Karl-Friedrich-Gymnasiums 1917; Hans Jacobsohn ist der vierte von rechts. 13 Jugendliche mit Lehrkraft stehen ernst blickend in einem Klassenzimmer. Im Vordergrund sind die Schultische zu sehen, dahinter stehen die Schüler teils seitlich gedreht, teils frontal zur Kamera gewandt.

Mannheim zur Kaiserzeit: Die größte Stadt des Großherzogtums Baden hat im Jahr 1905 gut 163.000 Einwohner, darunter 5.500 Juden. Das pulsierende Industrie- und Handelszentrum gilt als größter Warenumschlagsplatz Süddeutschlands; es wird liberal regiert und geprägt von stolzem Handels-bürgertum und einer starken Sozialdemokratie. In diese Stadt kommt 1907 der sechsjährige Hans Ludwig Jacobsohn, zusammen mit seiner Mutter.

Der Vater, ein aufstrebender Getreidekaufmann in Kassel, ist im Jahr zuvor an Blinddarmentzündung gestorben. Auch die Mutter, die aus der Mannheimer Kaufmannsfamilie Oettinger stammt und in ihr Elternhaus zurückkehrt, wird nicht alt: Sie stirbt zwei Jahre nach ihrem Mann während eines Badeurlaubs auf der Insel Norderney an Typhus. Der kleine Hans wird danach von seiner Großmutter und seiner Tante Luise Oettinger aufgezogen, einer durch Kinderlähmung an den Rollstuhl gefesselten, aber sozial sehr engagierten Frau, die ihn später adoptiert. Der Familienhintergrund ist jüdisch, doch die religiösen Traditionen werden nicht mehr gelebt. Die Oettingers sind assimiliert, fortschrittlich, fühlen sich als gute Deutsche.

Hans besucht in Mannheim die Bürgerschule und das humanistische Karl-Friedrich-Gymnasium, damals die einzige Schule der Stadt, an der die Hochschulreife erworben werden kann. Er ist knapp zu jung, um noch im Ersten Weltkrieg Soldat sein zu können, durchaus zu seinem Bedauern. 1919 besteht er das Abitur und studiert in den nächsten Jahren Jura in Heidelberg und Berlin. Seine Mitschüler haben über ihn in der Abi-Zeitung noch gespottet, er sei „geborner Rechtsanwalt“, doch sein Berufsziel ist Richter oder Staatsanwalt.


Bild 1: Die Unterprima U I b des Karl-Friedrich-Gymnasiums 1917; Hans Jacobsohn ist der vierte von rechts.

Nach dem Referendariat wird Hans Oettinger – der seit der Adoption den Namen von Mutter und Tante trägt – 1926 Gerichtsassessor in Mannheim. Um sich wirtschaftlichen Sachverstand zu verschaffen, lässt er sich für ein Jahr beurlauben und arbeitet bei der Rheinischen Treuhand, einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft. Anfang 1930 wird der Assessor zum Staatsanwalt und Beamten auf Lebenszeit ernannt. Im November 1932 folgt die Ernennung zum Amtsgerichtsrat.


Bild 2: Hans Oettinger als junger Staatsanwalt in Mannheim um 1930.

Doch die hoffnungsvolle Justizkarriere wird jäh beendet. Das NS-Regime erlässt im April 1933 ein „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, aufgrund dessen Hans Oettinger Ende Mai dieses Jahres wegen „nicht arischer Abstammung“ in den Ruhestand versetzt wird. Eine Pension verweigert man ihm. Insgesamt verlieren 13 jüdische Richter in Mannheim ihr Amt; nur vier von ihnen werden das Dritte Reich überleben.

Hans Oettinger ist unter diesen vier, er hat mehrfach Glück. Zunächst, schon im Sommer 1933, findet er eine Stelle als Prokurist und Justitiar bei einem Kohlenhandelsunternehmen in Frankfurt am Main, dessen Inhaber Hugo Nirmaier gläubiger Katholik und Nazigegner ist. Oettinger kann hier die nächsten Jahre eine einigermaßen ungestörte bürgerliche Existenz führen, bis sein Chef ihn 1938 auf Druck des NS-Gauwirtschaftsberaters entlassen muss. Er sucht, erst mal erfolglos, nach Auswanderungsmöglichkeiten, bereitet sich darauf auch mit einem Kurs bei einer Dienerschule vor und wird einige Tage nach dem Novemberpogrom verhaftet und ins KZ Dachau eingeliefert. Er bleibt fünf Monate dort und muss wie alle Häftlinge anderthalb Tage lang in der Januarkälte Appell stehen; nur dank eines Lagerkameraden, der ihn stundenlang stützt, entgeht er dem Erfrierungstod.

Nach der Entlassung – unter der Auflage, binnen kurzer Frist auszuwandern – erhält Oettinger unverhofft ein Hilfsangebot aus England: Jean Finch, eine Pfarrerstochter, die zufällig von seinem Schicksal gehört hat, erreicht, dass er im Pfarrhaus südlich von London Aufnahme findet und so zwei Wochen vor Kriegsausbruch dem NS-Staat entkommen kann. Als „feindlicher Ausländer“ wird er allerdings im Mai 1940 interniert – zunächst auf der Isle of Man, dann in Kanada – und kann erst ein Jahr später zurückkehren, um sich dem britischen Pionierkorps anzuschließen. Er heiratet seine Lebensretterin und ändert 1943, als Vorbereitungen für die Invasion getroffen werden, seinen Namen in Henry Ormond. Anfang 1945 betritt er wieder deutschen Boden als Angehöriger einer Spezialeinheit, die mit Lautsprecherdurchsagen und Flugblättern deutsche Soldaten zur Kapitulation bewegen will.

Nach Kriegsende wechselt Ormond zur „Information Control Unit“ der britischen Militärverwaltung in Hannover. Er arbeitet als Filmzensor und Lizenzoffizier für die Zulassung von Zeitungen und Kulturtätigkeiten aller Art. Mit zwei anderen englischen Armeeangehörigen ist er – als Verlagsleiter – beteiligt an der Gründung des Nachrichtenmagazins „Diese Woche“, das ab 1947 von deutschen Lizenzträgern unter dem Namen „DER SPIEGEL“ weitergeführt wird.


Bild 3: SPIEGEL-Lizenzfeier in Hannover 1947. Ganz links: Henry Ormond, zweiter von rechts: Rudolf Augstein.

Im April 1950 eröffnet Henry Ormond ein Anwaltsbüro in Frankfurt. Die Aufforderung des badischen Justizministeriums, wieder seinen Dienst als Richter in Mannheim anzutreten, lehnt er ab, weil er die mittlerweile erworbene britische Staatsangehörigkeit – des Landes, das ihm das Leben gerettet hat – nicht aufgeben möchte. Als Anwalt vertritt er zunächst seinen alten Arbeitgeber Nirmaier und viele Mandanten aus den Bereichen Presse und Film. Wegweisend wird dann jedoch seine Klage für den ehemaligen Zwangsarbeiter Norbert Wollheim gegen den Chemiekonzern IG Farben (in Liquidation), um Entschädigung für die erlittene Gesundheitsverletzung zu erreichen. Das Landgericht Frankfurt gibt 1953 der Klage überraschend statt und ebnet so den Weg für Vergleichsverhandlungen und eine Entschädigung jüdischer Sklavenarbeiter durch deutsche Industriefirmen. In der Folge wird die Kanzlei Ormond zu einer der führenden Adressen für die Durchsetzung der Wiedergutmachungsansprüche von NS-Opfern.

In den Jahren 1963-65 vertritt Henry Ormond 15 Nebenkläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess. In diesem Verfahren, das einen historischen Wendepunkt in der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen darstellt, hat die Nebenklage eine wichtige Funktion, um die Stimme der Opfer zu Gehör zu bringen. Ormonds Verdienst ist es namentlich, durch gute Kontakte nach Polen mitten im Kalten Krieg einen Ortstermin in Auschwitz anzubahnen, der die Prozessbeteiligten nachhaltig beeindruckt.


Bild 4: Eröffnung des Auschwitz-Prozesses am 20.12.1963 im Frank-furter Römer. In der Mitte stehend: Henry Ormond.

Ormond tritt während der 1960er Jahre auch in anderen NS-Strafprozessen als Nebenklagevertreter auf, so im Krumey-Hunsche-Prozess gegen die Organisatoren des Massenmords an den ungarischen Juden, und im Euthanasie-Verfahren gegen Verantwortliche des Tötungsprogramms in den psychiatrischen Kliniken. Daneben engagiert er sich lange Zeit ehrenamtlich für den Staat Israel – als Treuhänder des „Keren Hayessod“ – und für die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Er stirbt am 8. Mai 1973 am Herzinfarkt während eines Plädoyers vor dem Frankfurter Oberlandesgericht.

Nähere Informationen zur Anwaltstätigkeit und zum Leben von Henry Ormond findet man im Buch von Katharina Rauschenberger / Werner Renz (Hg.), Henry Ormond – Anwalt der Opfer. Plädoyers in NS-Prozessen, 2015. Der Autor (geb. 1958, Sohn von H.O.) plant eine ausführli-che Biographie.


Bildnachweis: 1 und 2 = Privatbesitz; Bild 3 aus: Leo Brawand, Die SPIEGEL-Story, 1987; Bild 4 aus: Rauschenberger/Renz, a.a.O.

alles zum Thema: Justiz, NS-Zeit

"Wir kennen auch keine Sonne und hören auch keinen Vogel."

Wir freuen uns mit der Geschichts-AG des Feudenheim-Gymnasiums über ihren Landespreis, den sie beim diesjährigen Geschichtswettbewerb "Mehr als ein Dach über dem Kopf. Wohnen hat Geschichte" des Bundespräsidenten gewann, der am 4. Juli im Neuen Schloss in Stuttgart feierlich entgegengenommen wurde. Unter dem Titel "Wir kennen auch keine Sonne, und hören auch keinen Vogel – Mannheims Luftschutzbunker nach dem Zweiten Weltkrieg" haben sich die Nachwuchs-Historiker*innen mit den ehemaligen Luftschutzbunkern Mannheims als Wohnraum beschäftigt und damit auch mit dem Ochsenpferchbunker, der das Marchivum beherbergt.

Ganzer Beitrag

Mannheim und die „moderne Tanzkultur“ in der Zwischenkriegszeit: Annemarie Fuss und die Schule für Körperbildung und Tanz unterm Hakenkreuz

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933 unterlag das „Tanzwesen“ sukzessive der NS-Tanzpolitik und der damit einhergehenden „Säuberung“ der deutschen Tanzszene von allem Jüdischen. Das Auftreten von Juden auf den deutschen Bühnen setzte die Zugehörigkeit zu einem der Fachverbände der Reichstheaterkammer voraus. Nichtariern wurde jedoch die Aufnahme in diese Verbände gemäß Paragraph 10 der ersten Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz verweigert. Mit dem Berufs- und Auftrittsverbot fand auch die Schule für Körperbildung und Tanz von Annemarie Fuss im Jahr 1938 ein jähes Ende, die sie seit 1931 in Mannheim leitete.

Ganzer Beitrag