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Mannheims verdrängte Opfer. Porträt einer Stadt im System der NS-„Euthanasie“

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farbiges Foto, das auf dem Friedhof aufgenommen wurde und einen Gedenkstein für die Opfer der NS-Zeit zeigt

Die euphemistisch "Euthanasie-Programm" genannte Mordaktion der Nationalsozialisten hatte das Ziel, dauerhaft pflegebedürftige Menschen, vor allem psychisch kranke oder behinderte Kinder und Erwachsene, die als "nutzlose Esser" betrachtet und deren Dasein pauschal als "lebensunwert“ bezeichnet wurde, zu töten. Dem zugrunde lag einerseits der eugenisch begründete Wunsch, die Erbanlagen des deutschen Volkes von "minderwertigen Genen“ zu reinigen, andererseits wollte das NS-Regime durch die Ermordung pflegebedürftiger Menschen für den Krieg benötigte Ressourcen einsparen.

Psychisch kranke und behinderte Menschen waren in der NS-Zeit einem dreifachen Verdrängungsprozess unterworfen, der Kontinuitäten in die Zeit weit vor und nach der nationalsozialistischen Diktatur aufweist: Gesellschaftliche Marginalisierung und räumliche Isolierung in abgelegene Psychiatrien waren Voraussetzungen für die Ermordung hunderttausender Patient*innen während des Krieges. Nach der Ermordung setzte die Verdrängung aus der Erinnerung ein, die sich im Schweigen der betroffenen Familien und der sich erst neuerdings entwickelnden Erinnerungskultur an die Opfer manifestiert.

Mannheims Geschichte im Kontext der nationalsozialistischen "Euthanasie“-Verbrechen wurde durch das nun abgeschlossene Forschungsprojekt erstmals erforscht. Auf Basis intensiver und innovativer Recherchemethoden konnte eine Mindestzahl von "Euthanasie“-Opfern mit Geburts- und/oder letztem frei gewählten Wohnort in Mannheim ermittelt werden: Mindestens 1.040 Männer, Frauen und Kinder wurden im Rahmen des "Euthanasie“-Programmes in fast dreißig verschiedenen Anstalten in ganz Deutschland getötet. Diese Zahl ist gemessen an Mannheim Einwohnerzahl hoch, wie ein Vergleich der wenigen bislang vorhandenen Regional- und Lokalstudien zeigt. Ein generelles Stadt-Land-Gefälle bei den Opferzahlen gilt auch für die industriell geprägte Großstadt Mannheim. Zusätzlich war Nordbaden durch seine geografische und strategische Lage besonders schwer von den Mordaktionen betroffen.

Gebäude mit Gaskammer in der Tötungsanstalt Grafeneck, undatiert, Foto: Bildarchiv Gedenkestätte Grafeneck

Neben der Frage nach den Opfern aus Mannheim war auch die Rolle der Stadt im System der NS-"Euthanasie“ Gegenstand der Untersuchung: Mannheim war kein Tatort, aber durchaus ein Handlungsraum. Angehörige hatten die Möglichkeit, gegen die Verdrängung der Patient:innen zu protestieren oder ihre Ermordung gegenüber den staatlichen Institutionen zu kommentieren. Dieser, freilich begrenzte, Handlungsraum wurde jedoch von wenigen genutzt. Eine systematische Untersuchung der gelenkten NS-Presse ergab, dass die Situation von Anstaltspatient*innen bewusst aus dem medialen Diskurs herausgehalten wurde. Dennoch belegen Einzelbeispiele die Möglichkeit für "Normalbürger*innen“, Kenntnis von der Mordaktion zu erhalten, sofern sie daran Interesse zeigten.

Als politische Akteurin war die Stadt Mannheim aktiv in das "Euthanasie“-Programm eingebunden, indem sie unter anderem für Verlegungstransporte in Tötungsanstalten bezahlte und hunderte Urnen aus Heil- und Pflegeanstalten diskret auf dem Hauptfriedhof bestatten ließ. Es ist vor dem Hintergrund dieser reibungslosen Kooperation davon auszugehen, dass die politische Elite der Stadt bereits seit 1940 über die Einzelheiten des geplanten Massenmords informiert war.

Die historische Forschung steht an der Schwelle zu einem Perspektivwechsel weg von den Tatorten und hin zu den Herkunftsorten der Opfer, der die Dimension der gesellschaftlichen Verflechtung und organisatorischen Komplexität der Mordaktion in den Fokus rückt. Die Rolle von Städten im "Euthanasie“-Programm, die keine Psychiatriestandorte waren, wurde mit dieser Studie erstmals umfassend beleuchtet. Es ist anzunehmen, dass sich das Mannheimer Ergebnis auch auf andere Großstädte übertragen lässt: Auch scheinbar unbeteiligte Städte konnten durch die "Euthanasie“-Verbrechen korrumpiert werden.

Sog. KZ-Gedenkstätte auf dem Hauptfriedhof Mannheim. Über 400 Opfer der NS-"Euthanasie" werden hier namentlich genannt.

Die historische Forschung steht an der Schwelle zu einem Perspektivwechsel weg von den Tatorten und hin zu den Herkunftsorten der Opfer, der die Dimension der gesellschaftlichen Verflechtung und organisatorischen Komplexität der Mordaktion in den Fokus rückt. Die Rolle von Städten im "Euthanasie“-Programm, die keine Psychiatriestandorte waren, wurde mit dieser Studie erstmals umfassend beleuchtet. Es ist anzunehmen, dass sich das Mannheimer Ergebnis auch auf andere Großstädte übertragen lässt: Auch scheinbar unbeteiligte Städte konnten durch die "Euthanasie“-Verbrechen korrumpiert werden.

Die Publikation wird mit dem Titel Mannheims verdrängte Opfer. Porträt einer Stadt im System der NS-"Euthanasie" voraussichtlich im Februar 2022 im Verlag regionalkultur erscheinen.

Anmerkung:
Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, der von der Verfasserin im Dezember 2021 im MARCHIVUM gehalten wurde.

"die Frembden hieher zu ziehen"

Das dritte Kapitel des Bandes zur Migrationsgeschichte von Prof. Ulrich Nieß setzt mit der Zerstörung Mannheims im pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 ein, die eine massive Abwanderung der Bevölkerung zur Folge hatte. Nördlich des Neckars lag der nächstgelegene Zufluchtsort, wo die Menschen in einfachsten Hütten mit schlechter Infrastruktur lebten. Dass Mannheim tatsächlich neugegründet werden konnte, lag vor allem am Frieden von Rijswijk, der 1697 geschlossen wurde.

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