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"Alles - nur nicht nach Mannheim!" Ilvesheims Widerstand gegen die Eingemeindung im Jahre 1973

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schwarz-weiß Foto eines Großplakats am Ortseingang von Ilvesheim, auf dem geschrieben steht: "Ilvesheim bleibt selbstständig. Verhindern Sie die Eingemeindung. Wählen Sie am 17. Juni ja", 1973

Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre befassten sich die Bundesländer mit dem Gedanken einer umfassenden Verwaltungsreform, mit der Zielsetzung, kommunal-strukturelle Gegensätze auszugleichen, die Gemeinden neu zu ordnen und die interkommunale Zusammenarbeit zu intensivieren. Das ebenso ambitionierte wie umstrittene Reformwerk wurde in Baden-Württemberg während der Zeit der Großen Koalition unter Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger (CDU) und Innenminister Walter Krause (SPD) auf den Weg gebracht. Einhergehend mit der Neuordnung der Verwaltung wurde eine Kreis- und Gemeindereform vollzogen, die am 1. Januar 1975 ihren Abschluss fand. Als eines der Ergebnisse dieser Reformen stand die Gründung des Rhein-Neckar-Kreises zum 1. Januar 1973, dem fortan auch Ilvesheim angehörte.

Im Prozess der sogenannten "Zielplanung", der die Gebietsreform begleitet hatte, sollten Zusammenschlüsse von Gemeinden und Eingemeindungen, entweder auf freiwilliger oder gesetzlicher Grundlage erfolgen. Seinerzeit standen verschiedene Überlegungen im Raum, und so wurde für Ilvesheim auch eine Eingemeindung nach Mannheim ins Spiel gebracht.

Damals freilich war die Frage einer Eingemeindung nicht zum ersten Mal aufgekommen: Zwischen 1928 und 1946 hatte es seitens Ilvesheims vier Versuche gegeben, auf eine Eingemeindung hinzuwirken, aber das Dorf war in jenen Zeiten mit zu großen wirtschaftlichen und strukturellen Problemen behaftet, als dass ein Zusammenschluss mit dem armen Bittsteller für Mannheim irgendeinen Vorteil gebracht hätte. Seit den ausgehenden 1960er Jahren aber hatten sich die Vorzeichen gänzlich umgekehrt: Ilvesheim war jetzt zu einer attraktiven Gemeinde mit moderner Infrastruktur und geordneten finanziellen Verhältnissen avanciert, deren Einwohner sich einer hohen Lebensqualität erfreuten und die jetzt selbstbewusst und stolz auf das Erreichte blickten.

Als nun die Begehrlichkeiten Mannheims bekannt wurden, war die Ablehnung in der Inselgemeinde sehr deutlich zu spüren. "Alles – nur nicht nach Mannheim!" lautete in einem Satz zusammengefasst die Gemütslage der Ilvesheimer, wenn man Sie nach dem künftigen Status ihres Gemeinwesens fragte.

Ambitionierte Pläne

Die Stadt Mannheim nahm im Zusammenhang mit der Zielplanung indes nicht nur Ilvesheim in den Fokus, sondern verfolgte weit ausgreifendere Ziele. So sollten auch die Umlandgemeinden Brühl, Edingen, Heddesheim, Ladenburg und Neckarhausen einverleibt werden, was einen Zuwachs von mehr als 50.000 Einwohnern entsprochen hätte. Begründet wurde dieser Expansionswunsch mit einer engen baulichen und sozioökonomischen Verflechtung und der Notwendigkeit einer über die Stadtgrenzen hinausreichenden Planung, fürchtete die Stadt durch einen östlichen Sperrriegel abgeschnürt und in ihrer Entwicklung gehemmt zu werden. Regelmäßig auch wurde von Mannheimer Seite auf die Inanspruchnahme städtischer Versorgungseinrichtungen und Dienstleistungen durch Einwohner der Umlandgemeinden abgehoben, die freilich nicht an den Kosten beteiligt würden.

Ilvesheim lehnte wie alle anderen von der Eingemeindung bedrohten Kommunen dieses Ansinnen rundheraus ab und setzte die eigenen Argumente dagegen: Weder war die soziökonomische und bauliche Verflechtung derart ausgeprägt, noch konnte von einer überdurchschnittlichen Inanspruchnahme städtischer Dienstleistungen durch die Ilvesheimer oder anderen Umlandbewohner gesprochen werden, zumal in den vorangegangenen Jahren eine Reihe von Ausgleichsleistungen beschlossen worden waren, wie etwa der Schullasten- und Straßenlastenausgleich oder das Krankenhausfinanzierungsgesetz. Und auch auf dem Gebiet der Versorgungsinfrastruktur bestand für Ilvesheim kein Handlungsbedarf. Aber nicht nur, dass eine Eingemeindung für Ilvesheim keine Vorteile gebracht hätte, waren es vor allem die zu erwartenden Nachteile, die die Bürgerschaft erregten und eine breite Abwehrhaltung evozierten, nämlich: Eine höhere Steuer- und Abgabenlast, und damit steigende Lebenshaltungskosten bei zugleich weniger Bürgernähe, Herabsetzung der Gemeindezuschüsse für Vereine, Verlust von politischer Teilhabe, Abgleiten in die Anonymität im Schatten der großen Stadt und Verlust der Identität.

Fürsprache erhielt die Gemeinde zunächst von Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger (CDU), der im März 1972 anlässlich einer Wahlkampfreise nach Ilvesheim gekommen war und öffentlich bekundete, dass er angesichts der gesunden Struktur der Gemeinde keinen Grund sehe, die Selbständigkeit aufzuheben. In Ilvesheim wurde dies gern gehört und als eine Art landesväterlicher Garantieerklärung verstanden.

Hoher Besuch im Ilvesheimer Rathaus (v.l.n.r.): MdL Gerhart Scheuer (CDU), Baden-Württembergs Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger (CDU) und Ilvesheims Bürgermeister Otto Trapp, Gemeindearchiv Ilvesheim.

Doch als das Kabinett am 24. Mai 1973 seinen Entwurf für die Zielplanung bekanntgab, war die Überraschung groß. Die Landesregierung war zwar darin zur Auffassung gelangt, dass man die Stadt-Umland-Problematik nicht einfach und schon gar nicht ausschließlich mit großflächigen Eingemeindungen lösen könne. Fünf der sechs Gemeinden – Heddesheim, Ladenburg, Brühl sowie Edingen und Neckarhausen wurden deshalb aus der Zielplanung herausgenommen, allerdings sollte Ilvesheim jetzt doch der Großstadt zugeschlagen werden, weil – wie es hieß – die Gemeinde durch ihre Lage in der Neckarschleife so eng mit Mannheim verknüpft sei, dass diese Eingemeindung notwendig und vertretbar wäre. Dass Ilvesheim alleine übrigbleiben und eingemeindet werden sollte, stieß im Ort auf ungeheure Verbitterung, zumal das gegebene Wort des Ministerpräsidenten plötzlich nicht mehr galt. Ilvesheims Bürgermeister Otto Trapp (parteilos) sprach in diesem Zusammenhang von einer "zynischen Herausforderung für den Bürger" und kündigte an, mit allem Nachdruck für die Beibehaltung der Selbständigkeit zu kämpfen. Das letzte Mittel dazu war die Bürgeranhörung auf der Grundlage von Artikel 74 der Baden-Württembergischen Landesverfassung. Danach konnte das Gemeindegebiet zwar durch Gesetz geändert werden, vor Erlass eines Gesetzes musste die Bevölkerung des unmittelbar betroffenen Gebietes allerdings angehört werden. Damit war die Stoßrichtung für sämtliche weiteren politischen Aktionen vorgezeichnet.

Die Initiative gegen die Eingemeindung

Sofort nach Bekanntwerden des Landesentwurfs formierte sich unter dem Namen "Aktion selbständiges Ilvesheim" eine parteiübergreifende, von allen Schichten getragene Bürgerbewegung. Die Aktion gab sich das Motto "Dein JA für Ilvesheim". Es galt, sich Gehör zu verschaffen. Noch lohnte es sich zu kämpfen und bis zur Abstimmung am 17. Juni einen möglichst großen öffentlichen Druck aufzubauen, denn die endgültige Entscheidung würde erst im Landtag fallen.

Das Dorf war während jener drei Wochen im Mai und Juni 1973 politisiert wie seit der 1848/49er Revolution nicht mehr. Verwaltung, Parteien, Kirchen, Vereine, Firmen und Privatleute unterstützten das Aktionsbündnis. Es entstanden ungewöhnliche politische Konfrontationslinien: CDU-Gemeinderäte und Landtagsabgeordnete stellten sich gegen die unionsgeführte Landesregierung, Ilvesheimer SPD-Gemeinderäte kamen mit ihren Mannheimer Genossen im Stadtrat über Kreuz.

Mit Flugblättern, Info-Ständen und Diskussionsabenden (zu denen Vertreter der Mannheimer Stadtratsfraktionen eingeladen waren und die außerordentlich leidenschaftlich verliefen), mit offenen Briefen an Verantwortliche, aber auch speziellen Aktionen, mit der sich das Bündnis auch große Aufmerksamkeit über die Ortsgrenzen hinaus verschaffte, wurde die Bürgerschaft für das Thema sensibilisiert. Besonders öffentlichkeitswirksam war der am 5. Juni 1973 organisierte Autokorso von Ilvesheim nach dem Mannheimer Schloss, wo das Landeskabinett zu einem Arbeitsbesuch weilte. Dort wurde von den Sprechern der Ilvesheimer Initiative an Filbinger eine Petition überreicht, während Ilvesheimer im Ehrenhof lautstark gegen die geplante Eingemeindung protestierten.

Demonstration im Ehrenhof des Mannheimer Schlosses, MARCHIVUM.

Großplakat am südlichen Ortseingang, MARCHIVUM.

Dass die Bürgeranhörung auf den 17. Juni festgelegt wurde – damals in der Bundesrepublik noch der Tag der deutschen Einheit im Gedenken an die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR im Jahre 1953 –, sahen manche Ilvesheimer als gutes Zeichen für die Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. An der Abstimmung mit der Entscheidungsfrage: "Sind Sie für die weitere Selbständigkeit Ilvesheims" nahmen 89,47 % der Ilvesheimer Wahlberechtigten teil. Mit 99,23% der gültigen Stimmen (das waren 5.044 Wähler) wurde ein an Deutlichkeit nicht zu überbietendes Votum für die Beibehaltung des Status als selbstständige Gemeinde abgegeben. Stolz wurde der Ausgang der Abstimmung per Fax nach Stuttgart gesandt.

Amtlicher Stimmzettel, Gemeindearchivm Ilvesheim.

Dieses Ergebnis bedeutete zwar keine verbindliche Handlungsanleitung für die Politik, aber hinterließ bei den Entscheidern in Stuttgart am Ende doch den erhofften Eindruck: Gegen den Willen der Bevölkerung wollte die Landesregierung – in diesem Falle zumindest – nicht entscheiden. Der Kabinettsbeschluss vom 19. Juli 1973, der in dieser Frage der Expertise des Sonderausschusses (wie der Landtagsausschuss zur Zielplanung auch genannt wurde) folgte, bedeutete für Ilvesheim die Beibehaltung des status quo als selbstständige Gemeinde, während Mannheim nicht einmal sein Minimalziel erreichen konnte. Für Mannheims Oberbürgermeister Dr. Ludwig Ratzel sollte dies die größte Niederlage seiner Amtszeit werden.

Letztlich war das, was das Ilvesheimer Aktionsbündnis zuwege brachte, ein Lehrstück in Demokratie, das exemplarisch zeigte, dass sich mitmachen lohnt und man mit Beharrlichkeit etwas bewirken kann. Am Ende der gemeinschaftlichen Bemühung stand der größtmögliche Erfolg, auf den mit Stolz geblickt wurde. Zweifellos hat dieser Erfolg das Selbstbewusstsein der Ilvesheimer gestärkt und wurde Teil ihrer Identität. Man kokettiert noch heute gerne mit dem Ruf als renitentes Insel-Völkchen, das es dem großen Nachbarn gezeigt hat.



Ilvesheim im Sommer 1976. Ein sehr großer Teil der Gemarkung liegt auf einer durch Kanal und natürlichem Neckarlauf gebildeten Insel. Unten ist der Mannheimer Stadtteil Seckenheim, am linken oberen Bildrand sind MA-Feudenheim und MA-Wallstadt zu sehen, Gemeindearchiv Ilvesheim.

Die Mannheimer haderten übrigens noch lange mit dem Ausgang der Sache. So manches Mal wurde der Vorwurf laut, dass der aus Mannheim gebürtige Filbinger nicht genug für seine Heimatstadt getan hätte. Und gegen die Davongekommenen setzte es aus der Quadratestadt bisweilen noch Nadelstiche: Als Mannheims Oberbürgermeister Wilhelm Varnholt beim Neujahrsempfang 1983, die Forderung nach weiterem Bauland für die Stadt im Umland stellte, sorgte dies auf so manchem Rathaus für erhebliche Unruhe. Otto Trapp forderte daraufhin genervt, dass "dieses störende Gerede endlich einmal aufhören sollte" und bekam vom damaligen baden-württembergischen Innenminister Roman Herzog (später Präsident des Bundesverfassungsgerichts und von 1994-1999 siebter Bundespräsident) bei dessen Ilvesheim-Besuch Anfang Februar 1983 die nötige Rückendeckung. Mehr noch, Herzog adelte den Selbstbehauptungswillen vom Juni 1973 nachträglich mit den Worten: "Wenn ich damals Ilvesheimer gewesen wäre, ich hätte ebenfalls einer Bürgerinitiative zur Erhaltung der Selbständigkeit angehört."

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Vor rund drei Jahren hat das MARCHIVUM ein Projekt zur Dokumentation der Mannheimer Migrationsgeschichte gestartet. Seitdem werden gezielt Vereins- und Firmenunterlagen, persönliche Korrespondenzen, Tagebücher, Zeugnisse, Plakate, Fotos, Filme und sonstige Materialien gesammelt, die Informationen zum Thema Zuwanderung in unsere Stadt nach 1945 bieten. Über Anlass, Inhalt und Ziele dieses Projekts haben wir in einem früheren Blogbeitrag bereits ausführlich berichtet.

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