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Zeitzeug*innen - Mannheimer Geschicht(e)n erleben. Das neue Internetportal des MARCHIVUM

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farbiges Foto, das Akten, Bücher, Zeitungsartikel aus dem Nachlass von Abdullah (Norbert) Weisser zeigt

Vor rund drei Jahren hat das MARCHIVUM ein Projekt zur Dokumentation der Mannheimer Migrationsgeschichte gestartet. Seitdem werden gezielt Vereins- und Firmenunterlagen, persönliche Korrespondenzen, Tagebücher, Zeugnisse, Plakate, Fotos, Filme und sonstige Materialien gesammelt, die Informationen zum Thema Zuwanderung in unsere Stadt nach 1945 bieten. Über Anlass, Inhalt und Ziele dieses Projekts haben wir in einem früheren Blogbeitrag bereits ausführlich berichtet.

Schriftzeugnisse und (audio-)visuelle Quellen geben über viele Ereignisse und Sachverhalte Auskunft. Doch so mancher Umstand, manches Ereignis spiegelt sich in ihnen nicht wider – niemand hat es aufgeschrieben oder fotografiert. In diesem Zusammenhang spielen Zeitzeug*innen-Gespräche eine wichtige Rolle. Aus der – freilich subjektiven – Lebens- oder Situationsbeschreibung der Interviewten erschließen sich bisweilen nicht bekannte, weit über die Geschichte der einzelnen Person hinausgehende Zusammenhänge. Denn nicht nur das eigene Leben und das der Familie werden von den Interviewten rekapituliert. Sie sprechen wertvolle Begegnungen ebenso wie Schwierigkeiten und Konflikte an, beleuchten Herausforderungen bei der Wohnungssuche oder im Bildungsbereich, politische Entwicklungen, das Vereinsleben oder so manche kirchliche Einrichtung. Kaum eine andere Quelle bietet mehr Einblick in den Alltag unserer Stadtgesellschaft.

Der Nachlass von Abdullah (Norbert) Weisser (1913-1982), der lange Jahre in Mannheim wohnte und Vorsitzender der "Islamischen Gemeinde Deutschlands e. V." (später "Gemeinde des Islams in Deutschland Moschee Schwetzingen e. V.") war, kam 2022 ins MARCHIVUM, Foto: MARCHIVUM.

Daher war es uns seit Projektbeginn ein Anliegen, authentische Aussagen von Mannheimer*innen, die aus anderen Ländern in die Quadratestadt gekommen sind oder als ihre Nachkommen in der zweiten und dritten Generation hier leben, zu sammeln bzw. mittels eigener Interviews abzufragen. Außerdem sollten die Statements nicht nur in unserem Archivbestand aufbewahrt und in den Lesesälen genutzt werden. Allen Interessierten in und außerhalb Mannheims wollten wir die Möglichkeit eines niederschwelligen Zugangs eröffnen.

Ergebnis dieser Bemühungen ist ein umfassendes Zeitzeug*innenportal zur Mannheimer Stadtgeschichte mit dem Themenschwerpunkt Migrationsbiografien. Das neue Portal ist auf der MARCHIVUM-Homepage unter der Rubrik "Archiv" oder direkt über die eigene URL (https://zeitzeugen.marchivum.de/de/zeitzeugen) abrufbar.

Den Kern bilden zum einen die hauseigenen Interviews, die unter der Rubrik "Migration ins Quadrat" eingestellt werden. Die Gespräche beziehen sich in der Regel auf die gesamte Lebensgeschichte der Zeitzeug*innen, dauern ein bis zwei Stunden und wurden in den Räumen des MARCHIVUM aufgezeichnet. In sehr persönlicher und engagierter Weise erzählen die Befragten ihre Geschichte, berühren dabei die verschiedensten Facetten der jüngeren Mannheimer Migrationsgeschichte. Wir erfahren von den tiefen Spuren, die die jahrelange Trennung der Familie bei Yusuf Bayram und seinen in der Türkei verbliebenen Geschwistern hinterlassen hat. Oder blicken auf das Verfolgungsschicksal, das der Flucht Tefik Ramadanis aus dem Kosovo in die Quadratestadt vorangegangen ist. Uns bringt die Willenskraft zum Staunen, mit der Nazan Kapan als junge Frau sich von traditionellen Rollenmustern emanzipiert und dies heute anderen Mädchen und Frauen vermittelt. Armi Korja-Mayer beschreibt eindringlich, wie elementar der Verlust der Muttersprache sein kann und was sie dagegen getan hat. Dass ein Schrebergarten in Mannheim ein Stück Heimat fern von Sizilien symbolisiert, zeigt uns Giuseppe Marino. Der Musiker Mehmed Ungan berichtet über die enge Verbindung von Sozialarbeit und Musikpädagogik, Kunst und Spiritualität, die zu seinem Lebensthema geworden ist. Und wie die hier geborene Generation engagiert und selbstbewusst das Beste aus verschiedenen Kulturen für sich fruchtbar macht, erzählen uns Binaey Taneri und Kamr Derbas. Sie alle entfalten ein spannendes und bemerkenswertes Kaleidoskop Mannheimer Migrationsgeschichten, die vom Nordirak über den Libanon und die Türkei, den Kosovo und Italien bis nach Finnland und schließlich in die Quadrate an Rhein und Neckar führen – und deren Horizont noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Eine zweite zentrale Interviewgruppe bezieht sich auf das Thema "Gastarbeiter*innen"-Migration und ist im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Erinnerungsortes auf dem Gelände der Buga23 entstanden. Unter der Ägide des Beauftragten für Migration und Integration zeichnete Ali Badakshan Rad Gespräche mit Mannheimer*innen auf, die selbst oder deren Eltern als "Gastarbeiter*innen" in den 1950er bis 1970er Jahren, der Zeit der sogenannten Anwerbeabkommen, in die Quadratestadt gekommen sind. In ihren Geschichten erzählen die Befragten von schwerem Abschied nehmen und aufregendem Ankommen, dem Hin- und Her-Gerissen-Sein zwischen den "Heimaten" und dem anfänglich kaum unterstützten Spracherwerb. Wie erging es den Kindern der "Gastarbeiter*innen", wie gestaltete sich die Arbeit, das Leben und die politische Teilhabe in Mannheim?

Erinnerungsort an die Mannheimer "Gastarbeiter*innen" auf dem Gelände der BUGA 23, Foto: MARCHIVUM.

Projektbeteiligte und Zeitzeug*innen mit Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz bei der Eröffnung, Foto: MARCHIVUM.

Berührend erzählt Charisios Tzellos, wie "der Vater plötzlich weg war." Als er selbst an einem grauen Novembertag in Mannheim ankam, staunte er nicht schlecht. Eine Straßenbahn hatte er in seinem behüteten griechischen Heimatdorf bis dato nicht gesehen. Sebastiano Micelisopo erinnert sich an die vielen Menschen aus seinem Ort, die in Mannheim bei der Bundespost gearbeitet haben und die man allesamt am Sonntag in der Kirche wiedertraf. Den Wasserturm haben zu Hause im sizilianischen Delia alle gekannt. Und die Schwestern Eufemia und Oliva Carmona Diaz fühlen sich an Rhein und Neckar "total integriert". Die deutsche Staatsangehörigkeit brauchen sie dafür eigentlich nicht – nur das Wahlrecht wäre ein Motiv, etwas zu ändern.

Charisios Tzellos in Tracht in seinem Heimatdorf Rodiania, ca. 1965, Foto: privat.

Sebastiano Micelisopo mit Mutter, Geschwistern und befreundeten Kindern am Wassertum, 1966, Foto: privat.

Die Schwestern Eufemia und Oliva Carmona Diaz beim Interview, 2022, Foto: privat.

Die jüngste Portal-Rubrik "Vom Kommen, Gehen und Bleiben", die auf einer Diplomarbeit des Mannheimer Fotografen und Kommunikationsdesigners Mirko Müller beruht, konfrontierte uns mit ganz neuen Herausforderungen: Hier mussten nun komplett in spanischer Sprache geführte Interviews aufbereitet werden. Für die Generierung der Untertitel wurde erstmals Künstliche Intelligenz eingesetzt. Über einen Meldebutton können Nutzer*innen Fehler zur umgehenden Korrektur melden.

Teil der Ausstellung "Vom Kommen, Gehen und Bleiben" von Mirko Müller auf dem Alten Messplatz, die in Kooperation mit dem Goethe-Institut Mannheim realisiert wurde, Foto: MARCHIVUM.

Neben den Interviews zur Mannheimer Migrationsgeschichte sind in dem neuen Zeitzeug*innenportal auch Präsentationen zu anderen Themen der Stadtgeschichte geplant. Derzeit abrufbar sind bereits Statements von Mannheimer*innen zu ihrem Leben im Stadtteil, die auch in unserer Stadtgeschichtlichen Ausstellung im Erdgeschoss des MARCHICHIVUM präsentiert werden. Hinzukommen sollen weitere Rubriken, etwa zur queeren Geschichte oder zum Leben im Bunker. Als flexible und stets erweiterbare Plattform soll das neue Internetportal so auch in Zukunft Raum für die Darstellung aktueller Gespräche mit Mannheims Zeitzeug*innen bieten – in enger Verzahnung mit und als wichtige Ergänzung zu den physisch im MARCHIVUM aufbewahrten Archivbeständen.

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