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Der Lebensweg des Johann Wilhelm Reiss

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Schwarz-Weiß-Porträt von Johann Wilhelm Reiss, um 1870

Johann Wilhelm Reiß wurde am 13. Juni 1838 in Mannheim geboren. Er war das zweite der drei Kinder des Großkaufmanns und Mannheimer Oberbürgermeisters Friedrich Reiß. Für den wohl eher dominanten Vater stand eigentlich fest, dass der älteste Sohn in seine Fußstapfen treten sollte. Die Auseinandersetzung dem Vater über die Frage der Berufswahl prägte dann auch Reiß' junges Erwachsenenalter maßgeblich. Aus Briefen an seinen Vater geht hervor, dass dieser seinen Sohn finanziell recht kurzhielt, selbst als er bereits seine späteren Studien aufgenommen und seine Berufswahl längst getroffen hatte.

Als der Vater das Oberbürgermeisteramt übernahm, wurde Reiß 1850 im Benderschen Institut in Weinheim aufgenommen, im folgenden Jahr jedoch bereits in die höhere Bürgerschule in Mannheim geschickt, die er bis zum Abschluss der Klasse 6 im Jahr 1855 besuchte. Im Juli und August 1855 ging er dann in die Handelshochschule in Antwerpen, die dem jungen Mann nach dem Willen des Vaters eine kaufmännische Karriere ebnen sollte. Dieser aber fand, "dass die Theorien des Handels schauderhaft langweilig sind".

Aufriss der Bürgerschule in N 6, 1851

Um seine immer wieder auftretende Augenentzündung auszukurieren, begab er sich 1856 in Begleitung seines Freundes, des Malers Louis Coblitz, auf eine viermonatige Studienreise nach Italien. Hier entdeckte Reiß seine Neigung zur Mineralogie und Vulkanologie. Spätestens nach einem Aufenthalt als Praktikant in einem Bergwerk bei Bernkastel an der Mosel bis zum Januar 1857 stand für ihn fest, dass er nicht die vom Vater gewünschte Berufswahl treffen, sondern seiner Leidenschaft für die Naturwissenschaften folgen würde. Nach Studien der Chemie, Physik, Mineralogie, Kristallographie, Paläontologie, Meteorologie und Geographie in Berlin, Bonn, Karlsruhe, Gießen und Heidelberg wurde er dort 1864 in Geologie, Chemie promoviert und im gleichen Jahr mit der bereits 1861 erschienenen Schrift "Die Diabas- u. Lavenformation d. Insel Palma" zum Privatdozenten habilitiert.

Reine Lehrtätigkeit stellte für Reiß keine echte Herausforderung dar. Sein Metier waren Forschungsreisen, die ihn bereits zwischen 1859 und 1860 nach Portugal, auf die Azoren, Madeira und die Kanarischen Inseln geführt hatten sowie 1866 zusammen mit Karl von Fritsch und Moritz Alphons Stübel nach Santorin. Nun folgte 1868 bis 1876 eine umfangreiche und sehr ergiebige Expedition durch Kolumbien, Ecuador und Peru. Zusammen mit dem Geologen Stübel gelang es Reiß, Messungen durchzuführen und Gesteinsproben zu entnehmen, die sehr bald die bisherige Vulkantheorie maßgeblich beeinflussen sollten. Von dieser Reise brachte er u. a. über 800 Fotografien mit nach Mannheim, Bilder, die er professionellen Fotografen abgekauft hatte.

Am 28. November 1872 bestieg Reiß als erster Europäer den sechstausend Meter hohen Vulkan Cotopaxi in der Ostkordillere von Ecuador. Als einzige Begleitung folgten ihm sein Diener und sein Hund. Über diese Vulkanbesteigung liegt eine handschriftliche Übersetzung seines Berichts an den Präsidenten von Ecuador, Garcia Morena, im Faksimile in den Reiß-Engelhorn-Museen vor. Daraus kann die Beschwerlichkeit der Tour nur erahnt werden: schlechte Witterungsverhältnisse, dünne Luft, entkräftete Träger und Diener, die auf den letzten tausend Metern zurückblieben, sowie eine kurz vor dem Ziel zugezogene Verletzung, die fast dem Erfolg des Unternehmens vereitelt hätte.

Im April 1876 zurück in Deutschland forderten die jahrelangen Strapazen und Forschungen in Südamerika unter primitiven Bedingungen ihren Tribut. Schon als junger Mann augenleidend und durchaus auch hypochonderisch veranlagt, war seine Gesundheit nun schwer beeinträchtigt. So verbrachte er die Jahre bis 1892 als Privatgelehrter in Berlin, immerzu beschäftigt mit seinen Aufzeichnungen und Forschungen an seinen Gesteinssammlungen, dem Publizieren seiner Forschungsergebnisse und seiner Mitgliedschaft in verschiedenen Vereinen und Gesellschaften.

Reiß wurde nach Beendigung seiner Expedition mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt. Als Vorsitzender leitete er von 1885 bis 1887 die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin und 1888 die Gesellschaft für Anthropologie. Noch zu Lebzeiten wurde er im Brockhaus von 1903 aufgeführt. Diverse Orden und Auszeichnungen kürten sein Lebenswerk, wie das Ritterkreuz vom Orden vom Zähringer Löwen I. Klasse (1879), mit Eichenlaub (1887), der Preuß. Roter-Adler-Orden III. Klasse (1879) und der Preuß. Geheimer Regierungsrat (1892).

Zusammen mit seiner Frau unternahm er 1888 eine letzte größere Reise nach Italien, Ägypten, Griechenland und in die Türkei.

Johann Wilhelm Reiss, ca. 1880

Trotz seines Ruhmes zog sich Reiß im letzten Lebensjahrzehnt zurück. Nach anfänglicher Fortführung der Zusammenarbeit mit Stübel entfremdeten sich beide, zumal Stübel eine von Reiß nicht akzeptierte eigene Vulkantheorie aufstellte. Ab 1898 arbeitete jeder für sich. Wie tief der Riss war, zeigt sich etwa in Stübels letztem Willen, die erhaltenen Briefe von Reiß zu vernichten.

Reiß selbst litt immer mehr unter dem Unvermögen, die Fülle seiner Forschungsergebnisse in geordnete Bahnen zu lenken. Längst waren noch nicht alle Untersuchungsgebiete ausgewertet, was ihm auch nicht mehr gelingen sollte. Bereits zusammen mit Stübel hatte er sieben Jahre gebraucht, um das Prachtwerk "Das Totenfeld von Ancon in Perú" zu veröffentlichen, allein auf sich gestellt gelang ihm kein speditives Arbeiten mehr: Was während der Expedition als schnelles Festhalten eines Eindrucks ins Tagebuch eingetragen wurde, war Jahre später einfach nicht mehr nachzuvollziehen. Desillusioniert schrieb R. an den Geographen und Forschungsreisenden Hans Meyer: "Ich bringe nichts mehr fertig und lese nur noch Vulkanologisches und Philosophie."

Zum Alterssitz wurde ab 1892 Schloss Könitz in Thüringen, wo er am 29. September 1908 bei einem Jagdausflug ums Leben kam.

Anlässlich des Erscheinens einer Festschrift zum XX. Deutschen Geographentag wertete Karl Heinz Dieztel Reisebriefe und Tagebücher aus dem Nachlass Reiß aus, die Zeugnis über die große Südamerika-Expedition geben. Da er die persönlichen Passagen aber nicht aufnahm, wird die Persönlichkeit von Reiß daraus nur schwer fassbar.

Im Gegensatz zu seinen mit ihren Stiftungen und als Ehrenbürger in der Stadt Mannheim sehr prominenten Geschwistern ist weder eine Straße, geschweige denn ein Museum nach ihm benannt. Einzig in der Sammlung der Reiß-Engelhorn-Museen erinnern drei Gemälde Troyas, nach Zeichnungen von Reiß, sowie die erwähnten Faksimile-Drucke an einen zwar bereits zu Lebzeiten hochgeehrten Forscher, einen im Alter jedoch letztlich vom seinem eigenen Lebenswerk überforderten Menschen. So besteht Reiß‘ eigentliches Vermächtnis in den von ihm auf seinen Forschungsreisen gesammelten Reisefotografien. Zusammen mit den Aufnahmen aus den Nachlässen seiner beiden Geschwister besitzt das Forum Internationale Fotografie an den Reiß-Engelhorn-Museen in Mannheim ein bedeutendes Konvolut von ca. 10 000 Aufnahmen, welche einen repräsentativen Querschnitt durch die Reisefotographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet.

Mannheims Vielfalt entdecken: die Stadtteile und ihre Menschen. Ein Videoprojekt für die Stadtgeschichtliche Ausstellung

Wie lebt es sich in Mannheim und seinen Stadtteilen? Dieser Frage sind wir gemeinsam mit einem Filmteam nachgegangen. Wir haben uns mit ganz unterschiedlichen Menschen getroffen, die uns über sich und ihren Stadtteil erzählt haben. Die Videos sind ab 5. November in der Stadtgeschichtlichen Ausstellung zu sehen. Produziert wurden sie mit finanzieller Unterstützung von KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, einem gemeinsamen Förderprogramm der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Kulturstiftung der Länder.

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