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Spiegelfabrik und Spiegelsiedlung auf dem Waldhof: Die Industrialisierung nimmt Fahrt auf

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Spiegelfabrik vom Rhein aus, historisches Foto, ca. 1900

Mit der Gründung der Mannheimer Spiegelfabrik in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt auch die Industrialisierung in der Region.

Vertreter der französischen "Compagnie des Manufactures de Glaces et de Verres" kaufen 1853 die Güter Waldhof und Luzenberg sowie weitere Grundstücke der Gemeinde Käfertal, um dort eine neue Fabrik zu errichten. Im gleichen Jahr wird die Fusion mit dem Werk von Saint-Gobain vereinbart, die 1858 formal in Kraft tritt.

Plan der Spiegelsiedlung aus dem Atlas der Gemarkung Mannheim (1882-1886) Käfertal Waldhof

Eine Bedingung des Großherzogtums für eine Ansiedlung ist es, auch den Sitz der französischen Traditionsfirma nach Baden zu verlegen. Ihr Ursprung liegt im Jahr 1665 als Ludwig XIV. das Herstellungsprivileg für Spiegelglas erteilt, um den Bedarf der Schlossgalerien von Versailles zu decken. Schnell entwickelt sich die Manufaktur in Konkurrenz zum venezianischen Glasbläserzentrum Murano, das eine lange Tradition in der Glasherstellung vorweisen kann und bis ins 17. Jahrhundert hinein seine führende Rolle behält. Doch setzt sich schließlich das französische Tischwalzverfahren durch.1692 verlagert sich die Produktion der königlichen Spiegelfabrik in den kleinen Ort Saint-Gobain in der Normandie. Noch heute heißt das Werk "Saint-Gobain Glass Deutschland GmbH".

Bereits im Oktober 1854 beginnt in Mannheim der Guss von Rohglas. Gearbeitet wird in einer Schmelzhalle mit zwei Hafenöfen, in einer Gießhalle sowie einer Schleif- und Polierhalle. Darüber hinaus werden in kurzer Zeit Magazinbauten, eine Schlosserei, eine Kistenmacherei und weiter Nebenbauten errichtet.

Mit der rechtsrheinischen Ansiedlung in Baden erschließt die Firma einen großen Markt, denn eine ernst zu nehmende Konkurrenz ist in der gesamten Region nicht vorhanden. Der Bedarf bisher nicht gekannter Mengen an Glas für das moderne Bauen mit Stahl- und Glaskonstruktionen verspricht hohe Gewinne. Vorbild für die neue Bauweise ist der bekannte, für die Weltausstellung 1851 errichtete Londoner Kristallpalast, gefolgt von dem Münchner Glaspalast 1854.

Der Standort in Baden bietet weiterhin den Vorteil, dass Import- und Durchgangszölle, die der 1834 gegründete Deutsche Zollverein erhebt, entfallen. Die Ansiedlung am Rhein ermöglicht zudem die Anlieferung der Rohstoffe zur Glasherstellung wie Quarzsand, Kalk, Sulfat und Soda mit Schiffen. Darüber hinaus sind Bau- und Brennstoffe vonnöten. Der notwendige Schleifsand ist sogar auf dem Werksgelänge vorhanden.

Erst nach und nach wird die harte körperliche Arbeit auf dem Waldhof durch Dampfmaschinen ersetzt. Nicht zufällig wächst der Erfolg der Fabrik mit dem Beginn des industriellen Aufschwungs in Baden in den 1850er und 1860er Jahren. Einige noch heute bestehende Unternehmen haben ihre Wurzeln in dieser Zeit. Unter ihnen die Mannheimer Schmiede des Joseph Vögele, die sich zunehmend auf Eisenbahngerät spezialisiert und so von dem Aufschwung des Eisenbahnnetzes in der Region profitiert. 1848 beginnt auch der Aufstieg Friedrich Engelhorns, des späteren BASF-Gründers, mit einer Leuchtgasfabrik in K 6. Ermöglicht wird der wirtschaftliche Aufschwung in der Region durch die Entwicklung des Verkehrsnetzes.

Mit der Rheinschifffahrtsakte von 1831 wird die Auflösung von Stapelrechten und das abgabenfreie Umladen festgeschrieben und fördert die Handelsschifffahrt. In deren Folge wird 1840 der Freihafen in Mannheim zwischen Stadt und Mühlauinsel eröffnet. Ein wichtiges Transportmittel für Rohstoffe und Industrieprodukte ist außerdem die Eisenbahn, wird doch am 12. Oktober 1840 die erste Bahnstrecke Badens zwischen Mannheim und Heidelberg eröffnet. Westlich des Rheins kommt 1847 eine Eisenbahnverbindung von Ludwigshafen nach Speyer und Worms hinzu.

Die Niederlassung von Saint-Gobain fällt demnach in die Jahre, in denen die Grundlagen für die Entwicklung Mannheims zur Industriestadt gelegt werden. Der Industrialisierungsprozess hat auch weitreichende soziale Konsequenzen. Das Leben in Stadt und Land verändert sich, neue soziale Klassen entstehen.

Die Spiegelfabrik begegnet der sozialen Frage mit dem Bau eines eigenen Wohndorfes direkt bei der Fabrik. Um den Anreiz zur Übersiedlung nach Baden zu erhöhen, werden moderne mietfreie Wohnungen für die 400 Arbeiter und Angestellten geschaffen, die aus Frankreich übersiedeln. Laubenganghäuser fördern die soziale Kommunikation und vermeiden dunkle Treppenhäuser.

Laubenganghaus der Spiegelsiedlung, Foto um 1963. Heute hat sich nur ein einziger Galeriebau erhalten.

Die zweistöckigen Galeriebauten mit mehreren Wohneinheiten zwischen 40 m² und 44 m² werden ab 1854 in unterschiedlichen Bauformen und Varianten geschaffen. Im Hinterhof ist Platz für ein Gärtchen und einen Stall. Die sogenannte Spiegelkolonie wird durch Kirchen, Geschäfte mit französischen Waren, einem Schulhaus, Kindergärten und einer Turnhalle für einen Turnverein ergänzt.

Darüber hinaus spielt die sozialpolitische Fürsorge mit Unfall-, Kranken- und Pensionskasse eine wichtige Rolle. Die Fabrikleitung bietet ihren Arbeitern und Angestellten eine funktionierende Gemeinschaft. Drei Fabrikpolizeidiener sorgen für Ordnung, der väterliche Direktor übt die Schlüsselgewalt für das Werk und auch die Polizeigewalt aus. Die Mitarbeiter dürfen sich ohne Erlaubnis nicht mehr als 1,5 km vom Werk entfernen, müssen sie doch ständig verfügbar sein und werden bei großen Gussvorgängen per Signal in die Werkshallen gerufen. 1921 wohnen 1.520 Menschen in der Spiegelsiedlung, von denen 350 in der Spiegelfabrik arbeiten.

Glasschneider in der Spiegelfabrik, um 1954

Charakteristisch für den Konzern ist seit jeher die Übernahme bestehender Firmen aus vergleichbaren Produktionsbereichen, was zur Konsolidierung und dem Ausbau im Kaiserreich führt. In Mannheim werden Glas- und Spiegelscheiben für die bayrischen Schlösser Herrenchiemsee und Linderhof produziert. 

 

"Frau Christa" kauft ein

In der Ausstellung "Alltagswelten einer Industriestadt" läuft in einem digitalen Bilderrahmen eine Fotoserie, die im Zusammenhang mit der von Hans Roden verfassten Reportage "Frau Christa kauft ein" entstanden ist. Die Reportage begleitet eine junge Frau bei ihrem Einkauf durch die Geschäfte, die Anfang der 1950er Jahre im Tiefbunker unter dem Alten Messplatz das sog. Bunkerkaufhaus gebildet haben.
 

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