Breadcrumb-Navigation

Ein kurzer Abriss der Geschichte der Neckarstadt

Kategorien
Karte der Neckarstadt von 1906

Die Mannheimer Neckarstadt feiert in diesem Jahr ihr 150-jähriges Jubiläum. In der neuesten Publikation des MARCHIVUM geht Hans-Joachim Hirsch der Entwicklung dieses besonderen Mannheimer Stadtteils von den ersten Siedlungsanfängen über die eigentliche Stadtteilgründung und -erschließung, die Zeit des ersten Weltkriegs, die Weimarer Republik bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus nach. Der Band endet in der Nachkriegszeit mit den ersten Zeugnissen des Wiederaufbaus und dem Ausblick in eine demokratische Zukunft. Im Folgenden sollen einige der von Hirsch in seinem Buch beschriebenen Meilensteine der Stadtteilentwicklung vorgestellt werden.

Mit zunehmender Industrialisierung wuchs die Arbeits- und Wohnbevölkerung Mannheims unaufhaltsam, die Wohnungsnot griff um sich. Im September 1871 beschloss der Gemeinderat, das Wohnungsproblem auch jenseits des Neckars anzugehen. Nach verschiedenen Vorbereitungen genehmigte der staatliche Bezirksrat am 15. Februar 1872 die bauliche Erschließung der Neckarvorstadt – die Gründung des neuen Stadtteils war damit amtlich. Anschließend ging es an die Versteigerung des parzellierten Geländes.


Die ersten Bauquadrate zwischen heutiger Damm- und Mittelstraße. 1872 verkaufte Grundstücke sind rot markiert. MARCHIVUM

Die ersten sieben Bauquadrate hinter dem Brückenaufgang erhielten nach dem Vorbild der Innenstadt Bezeichnungen aus Buchstaben und Zahlen. In manchen Quellen findet sich noch zusätzlich – wie für die Stadterweiterungsgebiete Mannheims üblich – ein Z vorangestellt. So entstanden die Bauquadrate ZC 1 und 2, ZD 1 und 2, ZE 1 und 2 sowie ZF 1. Die Namen der Hauptverbindungen wie die Dammstraße, die Langstraße und die Mittelstraße wurden bereits 1890 zu offiziellen Straßenbezeichnungen erklärt. Die Querstraßen hingegen hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Namen, sondern waren vom Messplatz aus nach Westen durchgezählt, von 1 bis 19. Daher rühren auch spätere Benennungen wie Zehntstraße (zehnte Querstraße), Elfenstraße (elfte Straße) oder auch die berühmte 19. Erst 1902 erhielten die Querstraßen ihre noch heute gültigen Namen.

Bereits weit vor der formalen Stadtteilgründung und erst recht im Zuge der Realisierung des Industriehafens siedelten sich Industrieunternehmen in der Neckarstadt an. Einer der großen Player vor Ort war die Düngemittelfabrik Zimmer, die größte südwestdeutsche Düngerfabrik jener Zeit. Die Fabrikationsstätte lag direkt hinter der Neckarbrücke, am Eingang der späteren Neckarstadt-Ost. Noch 1889 beschwerte sich ein Leserbriefschreiber über geruchsintensive Zulieferungen für die Chemiefabrik. Man könne den Bewohnern der Dammstraße, die ob ihrer schönen Lage von Mietern gerne gesucht wird, nicht zumuthen, dass sie solche Belästigungen, wie die geschilderten, ruhig hinnehmen. Die Lage sollte sich erst entschärfen, als die Düngerfabrik 1907 in den neu eröffneten Industriehafen umzog.


Idealisierte Ansicht der Werksanlagen der „Zimmerschen Fabrik“ auf einer Rechnung, 1901. MARCHIVUM

Als der erste Weltkrieg ausbrach, marschierten von der Kaiser-Wilhelm-Kaserne aus die Regimenter direkt an die Front. Das Volkstheater Colosseum wurde zum Lazarett, auf dem Alten Exerzierplatz ein Gefangenenlager für kriegsgefangene Soldaten errichtet. Nach Kriegsende 1918 machten sich Inflation und Arbeitslosigkeit in neuem gesellschaftlichen Elend bemerkbar. Zu den größten Herausforderungen der Weimarer Zeit gehörte einmal mehr die Wohnungsnot. Ende der 1920er Jahre verschärfte sich die Situation, nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Die Zahl der Elendsquartiere am Stadtrand wuchs. Auch in der Neckarstadt erstreckte sich eine Obdachlosensiedlung in den Spelzengärten.


Durchmarsch von Soldaten am Messplatz. Foto, um 1914. MARCHIVUM

Der Einfluss der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen hatte die Neckarstadt schon früh zur „roten Neckarstadt“ gemacht. Entsprechend griff die sozialdemokratische „Volksstimme“ Missstände im Stadtteil auf. Streiks prägten nach 1900 zunehmend den Alltag in den Betrieben. Der härteste Arbeitskampf fand 1908 im „Strebelwerk“ statt. Und mit ihrer Gründung 1918/19 wurde die Neckarstadt Agitationszentrum der KPD. Hier wurde die örtliche Parteizeitung, die „Rote Fahne“, gedruckt, hier lebten zeitweise prominente Parteimitglieder wie Paul Schreck und Georg Lechleiter. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten setzten gerade jüngere Neckarstädter Sozialdemokraten und Kommunisten der Repression hartnäckigen Widerstand entgegen - und mussten teilweise mit dem Leben bezahlen.


Beim Blick in die Alphornstraße ist unter den vielen Fahnen nur eine einzige NS-Fahne zu sehen. Foto, wohl 6.2.1933. MARCHIVUM

In der Neckarstadt artikulierte sich nicht nur mutiger Widerstand, sondern auch zunehmende nationalsozialistische Aggression. Wenige Tage nach der sogenannten Machtergreifung fand am 5. Februar auf dem Messplatz eine Kundgebung von SA-, SS- und Hitlerjugend-Anhängern, verstärkt durch „Stahlhelm“ und Arbeitsdienstleute, statt. Nach der Kundgebung marschierten die Trupps durch den Stadtteil. In der Bürgermeister-Fuchs-Straße stieß der Zug auf eine massive Gegendemonstration. Es kam zum Schlagabtausch – in den die Neckarstädter Frauen mit dem Einsatz von Blumentöpfen nicht unerheblich eingegriffen haben sollen. Einem weiteren, symbolträchtigen wie perfiden Ereignis wohnten am 19. Mai 1933 mehrere tausend Zuschauer*innen bei: Auf dem damals noch unbebauten Platz hinter der Feuerwache begleiteten Musikkapellen die Verbrennung der von den Nationalsozialisten verfemten Literatur.


Aufruf zur Bücherverbrennung im "Hakenkreuzbanner", 18.5.1933. MARCHIVUM

Mit der Konsolidierung der nationalsozialistischen Diktatur erfolgte die zunehmende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Jüdische Geschäftsleute in der Neckarstadt waren von Boykottaktionen, Repressionen und „Arisierungen“ betroffen. Dies traf z.B. Karl Herzberg, der zwei Wäschegeschäfte betrieb. Ende 1937 musste er die Firma für einen Schleuderpreis an den Textilkaufmann Ludwig Aretz aus Saarbrücken abtreten. Sein Leben konnte er mit Not in Verstecken retten. Dabei hatte auch das Denunziantentum Hochkonjunktur. Dies wurde der Bordellpächterin Rosa Eckel und ihrer Mieterin Margarethe Stögbauer in der Gutemannstraße zum Verhängnis. Sie hatten nach einem Luftangriff aus dem brennenden Keller des Nachbarhauses Wein und Präservative mitgehen lassen. Die Denunziation eines Nachbarn führte zu ihrer Verurteilung und Hinrichtung, heute erinnern zwei Stolpersteine vor den Barrieren der Lupinenstraße an die beiden jungen Frauen.


Textilgeschäft Herzberg in der Mittelstraße, Ecke Waldhofstraße, das 1937 "arisiert" wurde. Foto, um 1925. MARCHIVUM

Die Tage der Diktatur fanden ihr Ende in der Neckarstadt unter ähnlichen Begleiterscheinungen wie anderswo auch. Weite Teile des Stadtteils waren zerstört, Improvisation war gefragt. Als provisorische Unterkünfte dienten u.a. die Bunker. Baulücken wurden geschlossen, erste Großprojekte des sozialen Wohnungsbaus realisiert. Und die Brücken, die Verbindungen zur Innenstadt, kehrten zurück. So wurde am 31. August 1950 die neue Kurpfalzbrücke in Anwesenheit des Bundespräsidenten eingeweiht. Vom Nationalsozialismus unbelastete Menschen bekleideten verantwortliche Positionen des öffentlichen Lebens. Die Zeichen standen auf Neuanfang.

Die aspektreiche, mit vielen Bildern und lebendigen Geschichten illustrierte Publikation von Hans-Joachim Hirsch kann im MARCHIVUM-Shop käuflich erworben werden.

alles zum Thema: Neckarstadt, Stadtgeschichte