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Mannheim als Zentrum queeren Lebens im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

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Eckhaus mit Straßenschild "H 4". In diesem Gebäude in H 4, 10 richtete August Fleischmann 1922 ein Antiquariat ein, in dem er Zeitschriften der queeren Emanzipationsbewegung verkaufte.

Trotz der Verfolgung homosexueller und transidenter Menschen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war Mannheim bereits damals ein Zentrum queeren Lebens. Über diese Zeit berichtet Christian Könne in der Neuveröffentlichung „Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region“.

Es sind ausgerechnet Polizeiakten, die wertvolle Einblicke in das queere Leben in Mannheim zu dieser Zeit geben. Angelegt wurden diese Akten infolge des 1872 reichsweit eingeführten Paragrafen 175, der männliche Homosexualität zum Straftatbestand machte. Die Polizei beobachtete die Treffpunkte homosexueller Männer, zu denen auch mehrere Gaststätten zählten.


Das Gasthaus Neue Schlange in P 3, 12 (das rechte der beiden Gebäude) war eine der Mannheimer Gaststätten, die als Treffpunkt homosexueller Männer galt. Foto um 1906. MARCHIVUM

Die Wirte Juan Castasus („Spanische Weinhalle“ in M 4, 6) und Georg Germann („Zu den drei Königen“ in L 4, 13) boten Homosexuellen über viele Jahre eine offene Tür. In den Polizeiakten ist von regelmäßigen Stammtischen in Nebenzimmern die Rede und davon, dass bei solchen Treffen die „männlichen Gäste“ sich „verküsst“ und „miteinander getanzt“ hätten. In den Gaststätten verkehrten auch Personen, die von der Polizei abwertend als „Weiber“ und „Weiberfrisuren“ bezeichnet wurden. Dabei bleibt unklar, ob es sich um transidente Frauen oder männliche Cross-Dresser handelte.

In zivil gekleidete Polizisten observierten die Gaststätten, mischten sich unter die Gäste und horchten sie aus, um, wie es im Gesetzestext heißt, „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern nachzuweisen. Mitunter wurden Wirte und Gäste auch offiziell verhört. Dies alles mit dem Ziel, Strafverfahren wegen des Verstoßes gegen § 175 einzuleiten. 1912 führte die Polizei eine sogenannte Rosa Liste, auf der 14 Männer mit Namen, Adressen und Beruf verzeichnet waren. 1914 hatte Mannheim fünf oder sechs solcher Lokale, die als Treffpunkte Homosexueller galten.


Ein Film mit queerer Thematik: In Mannheim zeigte das Kino Alhambra 1932 den Film „Mädchen in Uniform“, in dem sich eine Internatsschülerin unglücklich in ihre Lehrerin verliebte. Werbeanzeige in der Neuen Mannheimer Zeitung vom 12.2.1932, Mittagsausgabe, MARCHIVUM.

Mannheim scheint mit der Szene in Berlin gut vernetzt gewesen zu sein. Dort machte sich das 1897 gegründete Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) unter Führung des Arztes und Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld die Abschaffung des Paragrafen 175 zum Ziel. Außerdem veröffentlichte das WhK wissenschaftliche Untersuchungen und Aufklärungsschriften über Homosexualität und Transidentität. Erstmals gab es auch Verlage, die Zeitschriften zu homosexuellen Themen veröffentlichten. Diese frühe queere Emanzipationsbewegung gewann während der Weimarer Republik zunehmend an Bedeutung und machte sich auch in Mannheim bemerkbar.

1919 vertrieb August Fleischmann von seiner Wohnung in T 4, 3 die Zeitschrift „Erosophische Probleme“ als „Kampfschrift gegen den § 175“. Später gründete er in H 4, 10 ein Antiquariat, in dem er weitere Emanzipationszeitschriften verkaufte. Außerdem legte er Spendenlisten für das Aktionskomitee zur Abschaffung des Paragrafen 175 aus. Eine weitere zentrale Adresse innerhalb des queeren Netzwerkes in Mannheim war der Buch-, Papier- und Schreibwarenladen von Jakobine Grohe.


Zeitweise war das Schlosshotel in M 5, 9 das Vereinslokal des Bundes für Menschrecht, der sich für die Abschaffung des § 175 einsetzte. Postkarte um 1900. MARCHIVUM


In diesem Gebäude in H 4, 10 richtete August Fleischmann 1922 ein Antiquariat ein, in dem er Zeitschriften der queeren Emanzipationsbewegung verkaufte. Foto um 1911, MARCHIVUM

Die Zeitschriften dieser frühen queeren Emanzipationsbewegung informierten regelmäßig über die Orte und Gruppen für „Gleichgesinnte“. Darüber hinaus veröffentlichten sie Kontaktanzeigen, die aber stets vorsichtig formuliert werden mussten, denn Polizei und Justiz lasen mit. Davon betroffen waren nicht nur die Anzeigen von Männern, sondern auch von Frauen, für die der § 175 zwar nicht galt, die aber wegen § 184 (Anbahnen von unzüchtigen Handlungen) angeklagt werden konnten.

1924 ist erstmals eine Gruppe für „interessierte Damen“ in Mannheim erwähnt. Sie konnte über eine Kontaktperson, Franziska Berg, erreicht werden. Die von Männern geprägte Mannheimer Ortsgruppe des „Bundes für Menschenrecht“ lud 1931/32 zu mehreren vergnüglichen Festabenden ein. Es war der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan. Die selbstbewusst gewordene queere Szene wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten brutal zerschlagen. Die Verfolgung erreichte in der NS-Zeit ihren Höhepunkt.


Postkarte von Mannheim mit einem Gedicht von Dr. Peter Schnellbach, einem von sechs Mannheimern, die die Petition des Wissenschaftlich-humanitären Komitees zur Abschaffung des § 175 unterschrieben, 1899. Sammlung Wolfgang Knapp, Büro für Kulturwissenschaft

Weitere interessante Episoden aus der Geschichte des queeren Lebens in der Rhein-Neckar-Region gibt es in der Publikation "Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region". Das Buch mit beigefügter Film-DVD ist im Verlag Regionalkultur erschienen. Es ist im Shop des MARCHIVUM, im Buchhandel und im Verlag zum Preis von 29,80 Euro erhältlich.

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Der Bierkrawall von 1873

Am 16. April 1873 sorgte die Erhöhung des Bierpreises für den sogenannten Bierkrawall. Bei diesem gingen vier Gaststätten zu Bruch und sieben Personen wurden wegen Aufruhrs und Landfriedensbruch angezeigt. Zeugnis davon geben uns der Bericht der Schwurgerichtsverhandlung vom 23. Juni 1873 und die Ratsprotokolle.

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Transidente Menschen in der queeren Geschichte der Rhein-Neckar-Region

Transidente Personen identifizieren sich nicht mit ihrem angeborenen, biologischen Geschlecht, sondern fühlen sich dem Gegengeschlecht zugehörig. Anknüpfend an das vom MARCHIVUM herausgegebene Buch "Queer im Leben! Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region", blicken wir heute in die Geschichte transidenter Menschen in der Region und stellen die Biografien von zwei trans Frauen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen vor.

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