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Mannheimer Migrationsgeschichte - ein neues Forschungs- und Buchprojekt

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Bild aus dem Familienalbum von Giuseppe Londero, 1968

Menschen verändern oftmals ihren Lebensmittelpunkt. Dies geschieht freiwillig oder durch Zwang. Die Verlagerung kann vorübergehend oder für immer sein. Dynamische Stadtgesellschaften spiegeln diesen Prozess wider; die Herkunft und Zusammensetzung ihrer Bewohnerschaft ist in stetem Wandel begriffen. Insofern bedeutet Stadtgeschichte immer auch Migrationsgeschichte, zugespitzt könnte man mit dem Soziologen Erol Yildiz sagen "Stadt ist Migration". Und diese Beobachtung wird – wie gerade das Beispiel Mannheim zeigt – nicht erst im 20. und 21. Jahrhundert virulent.

Nicht wenige Institutionen und Städte in Deutschland befassen sich derzeit mit (ihrer) Migrationsgeschichte. Pars pro toto seien das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiD) in Köln oder die große Dokumentations- und Ausstellungsinitiative von Stadtmuseum und Stadtarchiv München genannt. Ihr Schwerpunkt liegt – wie auch für die meisten vorliegenden Migrationsgeschichten südwestdeutscher Städte (etwa Reutlingen 2010, Karlsruhe 2010, Heilbronn 2012) – in der Zeit nach 1945.

In Mannheim haben das MARCHIVUM und das Historische Institut der Universität Mannheim für ihre neue Publikation bewusst einen weiteren Rahmen gewählt. Hier soll die Einwanderung von der Stadtgründung 1607 bis heute in den Blick genommen werden, strukturell erforscht und anhand ganz konkreter Biografien exemplifiziert werden. Das Phänomen der Auswanderung bleibt einem weiteren Band vorbehalten. Die Abhandlung, an der Historikerinnen wie Historiker der Universitäten Mannheim und Heidelberg, des Mannheimer Altertumsvereins und des MARCHIVUM beteiligt sind, erscheint im Jahr 2021. Das zentrale Thema Migration für die Mannheimer Stadtgeschichte wird in dieser Publikation chronologisch und reich bebildert erforscht und präsentiert.

Bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert spielt das Phänomen der Zuwanderung für die Quadratestadt eine wichtige Rolle. Die kurpfälzischen Landesherren warben in mehrsprachigen Stadtprivilegien um Zuwanderer. Stadtgründer Friedrich IV. zielte 1607 auf reformierte Glaubensbrüder und -flüchtlinge. Sein Enkel Kurfürst Karl Ludwig bemühte sich im Zuge des Wiederaufbaus 1652 erneut um "alle ehrliche Leut und von allen Nationen". In der geplanten Publikation sollen die Erfolge wie Probleme dieses multiethnischen und multireligiösen Experiments nachgezeichnet werden, indem das konkrete (Zusammen-)Leben vor Ort und die Auswirkungen von Katastrophen, etwa des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) und der Pest (1666), untersucht werden.

Van Deyl'scher Plan Mannheim, 1663, mit den Namen der Hausbesitzer. Dieser Plan zeigt, dass Mannheim schon früh durch Diversität geprägt war.

Der Pfälzische Erbfolgekrieg fegte 1689 indes alles Errungene und Erbaute weg. Dennoch siedelten sich – auf der Basis neuer Privilegien und einer Judenkonzession Kurfürst Johann Wilhelms von 1698 – vermögende jüdische Neubürger ebenso an wie ärmliche Dörfler aus der Umgegend an Rhein und Neckar.

Im 18. Jahrhundert, der Blütezeit Mannheims von 1720 bis 1777 als Residenz der Kurfürsten Karl Philipp und Karl Theodor, erhielt die Zuwanderung einen deutlichen Schub. Dieser verdankte sich jedoch weniger der Konfessions- und Gewerbefreiheit früherer Jahrhunderte, sondern ging primär auf das Konto der Residenzfunktion. Kurfürstliche Großbauprojekte wie der Schlossbau, eine erhöhte Nachfrage nach gewerblichen Produkten und der Ausbau als Handelsmetropole lockten viele Menschen nach Mannheim. Eine Berühmtheit wie der böhmische Geigenvirtuose und Komponist Johann Stamitz (1717-1757), Gründer der berühmten "Mannheimer Schule", lebte und arbeitete in der Quadratestadt.

Der Historiograf Cosimo Allessandro Collini (1727-1806) stammte aus Florenz.

Nach dem Wegzug Karl Theodors und seines Hofes 1778 fielen diverse Pull-Faktoren weg. Dessen ungeachtet blieb die Stadt für – andere – Zuwanderer attraktiv. So suchten z.B. in den 1790er Jahren zahlreiche französische Emigranten hier Zuflucht.

In den Untersuchungen zum 19. und frühen 20. Jahrhundert steht eine, nach anfänglicher Stagnation bis ca. 1830, zunehmend prosperierende Handels- und Industriestadt im Fokus. Mannheim war nun Teil des neuen Großherzogtums Baden. Trotz Abwehrpolitik der lokalen Zünfte, Auswanderungswellen und Epidemien wurden Bevölkerungswachstum und Zustrom von außen nicht dauerhaft ausgebremst. Im Gegenteil, die Stadt erlebte um die Wende zum 20. Jahrhundert das häufig zitierte "amerikanische Wachstum". Die zahlreichen Fabriken, der Hafenausbau, aber auch großbürgerliche Haushalte benötigten Arbeitskräfte und Personal. Gleichzeitig brachten ausländische Unternehmer und Spezialisten wertvolles Know-how an Rhein und Neckar. Erste ausländische Arbeitersiedlungen wie die Spiegelkolonie entstanden.

Werksiedlung der französischen Spiegelmanufaktur auf Käfertaler Gemarkung, 1855

Das "zweite Goldene Zeitalter" Mannheims endete 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der in vielerlei Hinsicht eine Zäsur darstellt. Unterschiedliche kriegerische und kriegsbedingte Maßnahmen bestimmten die Menschenbewegungen jener Zeit, die in Form militärischer Migration, Arbeitsmigration und Zwangsmigration von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern ihre Ausprägung fanden.

Kriegsgefangenenlager Mannheim, ca. 1917

In der Zwischenkriegszeit hielt die Arbeitsmigration auf niedrigerem Niveau an, andere Gruppen kamen hinzu. So gab es in Käfertal-Süd eine eigene Siedlung für die Elsass-Lothringer, die nach 1919 Zuflucht in Mannheim suchten. Auch Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten und  eingewanderte Ostjuden sind fassbar.

Während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren bedeutete Migration nach Mannheim – wie schon im Ersten Weltkrieg – primär Zwangsmigration, ob in Form von "Fremdarbeitern", Displaced Persons oder Flüchtlingen und Vertriebenen. Zehntausende Zwangsarbeiter v.a. aus Ost- und Westeuropa schufteten in den Mannheimer Fabriken. Einige von ihnen, aber auch manche aus den Konzentrationslagern befreite Menschen, blieben als sogenannte Displaced Persons in der Stadt. Nach Kriegsende kamen schon früh Kontingente von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus Mittel- und Osteuropa. Wie sich die Unterbringung der Zwangsmigranten und ihre Versorgung gestaltete, aber auch die Reaktionen der Mannheimer ihnen gegenüber sollen in dem neuen Buch zur Mannheimer Migrationsgeschichte nachgezeichnet werden.

Appell der Häftlinge des KZ-Außenkommandos Mannheim-Sandhofen im Hof der Friedrichsschule 1944/45, gemalt um 1990 von Mieczyslaw Wisniewski, der als polnischer KZ-Häftling in Sandhofen war und im Daimler-Benz-Werk Mannheim arbeiten musste.

Seit den 1950er Jahren erlebte die junge Bundesrepublik und damit auch Mannheim ein rasantes Wirtschaftswachstum. Der Arbeitskräftebedarf stieg enorm. 1955 kam es zum ersten Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien. Die sogenannten Gastarbeiter und die sie aufnehmende Gesellschaft dachten anfangs an eine Einwanderung auf Zeit. Doch Mannheim wurde - wie viele andere westdeutsche Städte - für die meisten "Gastarbeiter" zur dauerhaften Heimat. Das galt für die Italiener ebenso wie für die Spanier, Griechen, Türken, Jugoslawen und anderen Arbeitsmigranten. Die Organisation der Anwerbung vor Ort, ihre Herkunftsregionen, Wohn- und Lebenssituation ebenso wie die politische Partizipation werden in der avisierten Publikation thematisiert.

Aufnahme aus dem Familienalbum von Giuseppe Londero, 1968

Auch gilt es zu fragen, was der Anwerbestopp 1973 infolge der allgemeinen Wirtschaftskrise für die Mannheimer "Gastarbeiter" bedeutete – zumal sie häufig in den stark betroffenen Industriebranchen arbeiteten. Trotz der schrittweisen Institutionalisierung der städtischen Ausländerpolitik im Mannheim der 1970er Jahre (Koordinierungsausschuss, Ausländerbeauftragter) kam es – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Ausländer- und Asylpolitik in der Ära Kohl – zu massiven Reaktionen auch vor Ort. Mit den "Schönauer Krawallen" explodierten 1992 Rassismus und Fremdenhass. Die in den Folgejahren erbaute Yavuz-Sultan-Selim-Moschee hingegen steht mittlerweile für das alltägliche Miteinander in kultureller und religiöser Vielfalt. Im Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung machte sich die BRD über den migrationspolitischen Kompromiss von 1992/93 auf den Weg zur Einwanderungsgesellschaft – ein Prozess, der mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz 2000 einen vorläufigen Schlusspunkt fand.

Der Mannheimer Migrationsbeirat beim Neujahrsempfang der Stadt mit OB Dr. Peter Kurz, 2008. Das Gremium wurde erstmals im Jahr 2000 gewählt.

Auch in Mannheim rang man um die Anpassung an eine neue internationale und nationale Lage, bevor man sich zunehmend stolz und selbstbewusst auf 400 Jahre Einwanderungsstadt besann. Diesen Geist atmet auch die 1989 konzipierte und zuletzt 2017 modifizierte Mannheimer Erklärung. Sie verweist einleitend darauf, dass die "Stadt Mannheim […] in ihrer über 400-jährigen Geschichte überwiegend geprägt [ist] von einem Zusammenleben im Geist der Offenheit und der Verständigung – ein Selbstverständnis, das es zu bewahren und aktiv fortzuschreiben" gilt. So soll auch die geplante Publikation einen Beitrag dazu leisten, das Wissen um die bewegte Geschichte der Zuwanderung nach Mannheim für das Selbstverständnis und künftige Handeln in unserer Stadt fruchtbar zu machen.

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